In seinem vierten Roman Der traurige Gast erzählt Matthias Nawrat von zufälligen Begegnungen mit Personen, die über ihre Migrations- und Verlusterfahrungen sprechen und findet sich in philosophischen Reflexionen wieder.
Von Sebastian Kipper
In Der traurige Gast flaniert ein namenloser Ich-Erzähler durch das Berlin unserer Tage und gibt Betrachtungen der Stadt sowie zufällige Begegnungen mit unbekannten Menschen wieder. Zunächst wirkt dieser Flaneur noch anonym und als Charakter kaum greifbar. Sukzessiv gibt er jedoch Details über sich preis, die wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem Autor des Romans, Matthias Nawrat, aufweisen: Beide wohnen in Berlin, aber stammen ursprünglich aus dem polnischen Opole, aus dem sie bereits in ihrer Kindheit emigrierten; beide sind als Autoren tätig und haben bisher auch drei Erzählbände veröffentlicht.
Die Ähnlichkeit ist nicht zufällig, denn der Roman entstand aus Tagebucheinträgen Nawrats. Allerdings lässt sich Der traurige Gast nur schwer autobiographisch lesen, da man abgesehen von den oben genannten Informationen nur wenig über den Ich-Erzähler erfährt. Dieser tritt in seinen Erzählungen tatsächlich eher in den Hintergrund. Das Interesse gilt vielmehr den Figuren, denen er zufällig auf seinen Streifzügen begegnet: alte Freunde, flüchtige Bekanntschaften und vollkommene Fremde.
Eine Collage urbaner ErfahrungenAll diese Figuren haben abgesehen von ihrem gemeinsamen Wohnort nur wenige Gemeinsamkeiten und bewegen sich auch sonst in ihrer ganz eigenen
Zwei Figuren stechen in dieser Zusammenstellung aus Episoden jedoch heraus: die Architektin Dorota im ersten Teil und der ehemalige Arzt Dariusz im dritten Teil des Romans. Mit ihnen trifft sich der Erzähler mehr als mit anderen Figuren, sodass aus diesen Begegnungen ein eigenes, in sich geschlossenes Narrativ gesponnen werden kann. So sind auch der erste respektive dritte Teil des Romans nach ihren Berufsbezeichnungen tituliert und flankieren zusammen den zweiten und mittleren Teil, in dem eine höhere Figurenfluktuation stattfindet.
Geschichten über Migration und VerlustDer zentrale Kern, um den die Episoden in Nawrats Roman versammelt sind, ist der Themenkomplex Migration und Verlust, wobei dieser Schwerpunkt vor allem in den Geschichten der beide dominanten Figuren des Romans sichtbar wird. Sowohl die Architektin als auch der ehemalige Arzt stammen ursprünglich aus einem Polen, das dem Warschauer Pakt angehörte und unter Einfluss der Sowjetunion stand. Beide ließen ihre Familie zurück, um der Enge des repressiven politischen Systems zu entkommen. Das Versprechen eines besseren Lebens, das beide mit Deutschland verbanden, konnte aber nicht eingelöst werden. Beide Charaktere leiden an einer inneren Zerrissenheit und an den Verlusterfahrungen, die sie durch ihre Migration erlitten.
Auf den Biographien der Figuren haben sich Spuren der europäischen Geschichte abgelagert, die auf Ereignisse der bereits länger vergangenen Vergangenheit verweisen und durch die Verbindungen zu jüngeren Vorkommnissen hergestellt werden können. Als die Architektin Dorota die Geschichte ihrer Familie mit dem Zweiten Weltkrieg und der Ermordung der Juden verknüpft, regt sich jedoch Widerstand im Erzähler: Er wird von einem körperlichen Unwohlsein geplagt; während er ihren Ausführungen zuhört, wird er sogar wütend.
Die philosophische Dimension der BegegnungenDas Verhalten des Protagonisten sei Symptom für ein größeres Unbehagen, das mit den Abgründen des Menschen in Zusammenhang stehe, erklärte Matthias Nawrat in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Abgründe, in die der Protagonist Gefahr läuft, hineingezogen zu werden:
Etwas in den Erzählungen der Architektin, so spürte ich, begann in mich einzutröpfeln. Und es erzeugt in mir eine Gegenwehr, als wenn ich mich mit einer Krankheit angesteckt hätte und mein geistiges Immunsystem plötzlich reagierte.
Trotzdem sucht er die Architektin und den Arzt wiederholt auf. Bei dem Ich-Erzähler handelt es sich um den traurigen Gast, der im Titel des Romans Erwähnung findet, der in der Einsamkeit der beiden Figuren empfangen wird und selbst auch für ihre Einsamkeit empfänglich ist.
Der Ich-Erzähler ist allerdings nicht nur Gast, sondern auch Zuhörer sowie Chronist ihrer Geschichten. Dabei hält er sich als vermittelnde Instanz bedeckt und lässt abgesehen von wenigen Unterbrechungen und Kommentaren den Stimmen der Figuren Raum zur Entfaltung. Dieser Effekt wird auch durch formale Kniffe erreicht. Am auffälligsten ist der durchgehende Verzicht auf Anführungszeichen zur Markierung wörtlicher Rede. Wenn zum Beispiel der ehemalige Arzt Dariusz mit dem Erzähler über seine ersten Wochen in Deutschland redet, ist nicht durchgehend bestimmbar, wer gerade spricht. Die Unterscheidung zwischen Erzähler und Zuhörer löst sich auf; die Figuren scheinen unvermittelt zu Wort zu kommen. Der Zeitpunkt des Erzählten ist auch nicht immer eindeutig zu ermitteln. Verschiedene Zeitebenen greifen ineinander; die Gegenwart wird von der Vergangenheit durchdrungen – auch der Erzähler kann sich dieser Empfindung nicht verwehren:
Die Zeit, so dachte ich in diesem Augenblick, ist zirkulär, faltet sich, wenn ich will, über sich selbst, sodass mein jetziges Leben in Berührung kommt mit dem schon vergangenen und gleichzeitig die Unendlichkeit in Berührung kommt mit ihrer eigenen Unmöglichkeit.
Matthias Nawrat verfasste mit Der traurige Gast einen Roman, der mehr eine melancholische Stimmung erzeugt, statt eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. In einer lakonischen Sprache werden verschiedene Biographien entfaltet, die von Verlust und Einsamkeit geprägt sind und die im weiteren Sinne auf eine fragmentarische Untersuchung der conditio humana abzielen. Zu Recht wurde Der traurige Gast dafür in die Shortlist für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik aufgenommen.