Bücher von Christian Kracht sind immer ein Ereignis. Nach dem vieldiskutierten Imperium ist nun mit Die Toten Krachts fünfter Roman erschienen. Darin spürt der Autor der knisternden Stimmung Anfang der 1930er Jahre nach und führt uns in die Filmwelt von Berlin und Tokyo an der Wende vom Stumm- zum Tonfilm
Von Christian Dinger
Es gab wohl kaum einen Medienwechsel, der sich so radikal und binnen so kurzer Zeit vollzog wie der Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm. Mit der Etablierung der Tonspur hielt auch eine völlig neue Ästhetik Einzug in die Kinos und zahlreiche große Pantomime-Künstler verloren praktisch über Nacht ihre Arbeit und mussten den Kolleginnen weichen, die ihre Arbeit stärker am Sprechtheater orientierten. Auch das völkerverbindende Element des Stummfilms, der in jedem Land der Erde gesehen und verstanden werden konnte, fiel weg. Dennoch ist es vermutlich Zufall, dass der Aufstieg des Tonfilms mit dem Siegeszug des Faschismus auf dem europäischen Kontinent zusammenfällt, der diesen auch gleich für seine propagandistischen Zwecke zu nutzen wusste.
An diesem Punkt der Geschichte setzt Christian Krachts neuer Roman Die Toten ein. Charlie Chaplin besucht Japan, das genau wie er am Stummfilm festhält und den kleinen Tramp entsprechend verehrt. Währenddessen setzt man in Deutschland, wo die Nationalsozialisten gerade dabei sind, ihren Machtanspruch zu etablieren, auf heitere Tonfilm-Komödien mit dem kleinen, blonden, volkstümelnden Heinz Rühmann. Ein japanischer Ministerialbeamter namens Masahiko Amakasu hat sich vorgenommen, diese beiden Reiche, die wenige Jahre später gemeinsam im Zweiten Weltkrieg kämpfen werden, mit einer »zelluloidenen Achse« zwischen Tokyo und Berlin zu verbinden. Er schreibt dem Ufa-Tycoon Alfred Hugenberg, dass eine Allianz notwendig sei, um dem »allmächtig erscheinenden US-amerikanischen Kulturimperialismus entgegenzuarbeiten« und bittet um die Entsendung eines deutschen Regisseurs nach Japan. Hugenberg denkt nicht daran, eines seiner deutschen Genies unter Asiaten zu schicken, die er mit völkischer Geringschätzung betrachtet, und kontaktiert stattdessen den Schweizer Regisseur Nägeli.
Während Eisner und Kracauer bereits auf dem Weg ins Pariser Exil sind und sich gemeinsam mit Fritz Lang am Speisewagenwein betrinken, reist Nägeli nach Japan, wo Chaplin knapp einem Anschlag entgangen ist und Nägelis Verlobte Ida eine Affäre mit dem kühlen Masahiko Amakasu begonnen hat. Die schwermütige Ziellogsigkeit, mit der sich der Regisseur durch das Geschehen treiben lässt, erinnert dabei manchmal an Gustav von Aschenbach aus Thomas Manns Der Tod in Venedig, manchmal meint man auch den gealterten Protagonisten aus Krachts Debütroman Faserland zu erkennen.
Die formale Struktur des Romans folgt dem dramaturgischen Konzept des japanischen Nō-Theaters. Dieses besteht aus drei Akten, wobei im ersten Akt die Figuren wie Geister langsam schlurfend die Bühne betreten, im zweiten Akt beginnt die eigentliche Handlung und die Figuren interagieren miteinander, um dann im dritten Akt recht schnell wieder vom Brett gefegt zu werden. Und dementsprechend werden in Die Toten auf den ersten 90 Seiten die beiden Hauptfiguren Nägeli und Amakasu ausführlich und relativ umständlich vorgestellt. Wir erfahren von ihrer Schulzeit, ihrem Elternhaus und ihren Kindheitstraumata. Im Mittelteil entfaltet sich die rasante und genial erzählte Handlung zwischen Berlin und Tokyo. Und auf den letzten 20 Seiten des Romans wird mit den Figuren abgerechnet, noch ehe man das Gefühl hat, ihre Geschichte sei wirklich auserzählt. Hier liegt die einzige Schwachstelle in dem ansonsten meisterhaft erzählten Roman: Das künstliche Aufpfropfen einer Dramaturgie des Nō-Theaters, das ansonsten im Roman überhaupt keine Rolle spielt – viel plausibler wäre es gewesen, sich dramaturgisch am Film zu orientieren. Ein Autor wie Christian Kracht, der perfekt durchkomponierte Romane wie Imperium geschrieben hat, hat solche selbstauferlegten Regelpoetiken eigentlich auch nicht nötig.
Aber was auf der Makroebene misslungen wirkt, kann sich auf der Mikroebene durchaus sehen lassen. Auch die Kapitel, die im Gesamtkonzept des Romans nicht aufgehen wollen, bereiten einem beim Lesen große Freude. Hier wird mit ungebremster sprachlicher Fabulierlust zwischen Historiendrama, Slapstick und metaphysischer Allegorie auf die Vergänglichkeit changiert. Und vor allem ist es mit all dem gewürzt, was man an Krachts Prosa liebt und fürchtet. Querverweise durch die Literatur- und Kulturgeschichte (und zwar nicht nur die der europäischen Hochkultur), Cameo-Auftritte von historischen Persönlichkeiten, genussvolle Beschreibungen des Abscheulichen. Wer Kracht aus verschiedenen Gründen nicht mag, etwa wegen der empathielosen Gewaltbeschreibungen, der antiquierten Sprache, die spätestens seit Imperium den reduktionistischen Stil ersetzt hat oder wegen seiner antimodernen Grundhaltung, der wird auch in diesem Roman Dinge finden, die ihn stören. Wer aber andere Texte des Autors mochte, wird auch mit Die Toten auf die ein oder andere Weise auf seine Kosten kommen.
Wie schon in 1979 und Imperium zeigt Kracht in Die Toten seine außergewöhnliche Fähigkeit, auf sehr subtile Weise die subkutane Stimmung eines historischen Umbruchs spürbar zu machen. In 1979 führte er die Leser von der westlichen Dekadenz über die islamische Revolution bis ins chinesische Umerziehungslager. In Imperium ließ er sie ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte in der Südsee erleben und hat ganz nebenbei gezeigt, wie sich August Engelhardts Kokovorismus und Adolf Hitlers Nationalsozialismus zeitgleich aus dem esoterischen Fundus um 1900 herausentwickelten. In Die Toten nun fängt Kracht die knisternde Stimmung ein, die an der Wende von Stumm- zu Tonfilm, zwischen den roaring twenties und dem Siegeszug des Faschismus für kurze Zeit die Welt durchzog.
Ein Teil des Romans endet desillusioniert im kapitalistischen Amerika – nicht ganz unähnlich wie in Imperium. Und ein anderer Teil endet mit melancholischer Planlosigkeit in der Schweiz, wie wir es aus Faserland kennen. Man mag das für nebensächlich halten oder aber für einen narzisstischen poetologischen Selbstkommentar. Aber es spricht vieles dafür, dass Kracht zwischen seinen Romanen ein Netz knüpft, das sich nicht in der bloßen formalen Etikettierung als Trilogie oder Reihe erschöpft. Christian Kracht ist gerade dabei, etwas zu erschaffen, was es eigentlich fast nicht mehr gibt: ein Gesamtwerk, ein wirkliches Werk der Weltliteratur. Vielleicht ist das antiquiert, vielleicht sogar reaktionär, auf alle Fälle ist es eitel. Aber es ist eine wahre Freude.