Kleinverlagsstar Finn-Ole Heinrich hat eine neue Kurzgeschichte veröffentlicht, Cliffhanger, in der das wahre Leben und das bunte Fernsehleben zu einem schäumenden und bedrohlichen Amalgamat verschwimmen. Mit dem Unsortierten Orchester Oldenburg tritt er am Donnerstag (05. April 2012 ) im Göttinger Stilbrvch auf.
Von Alena Diedrich
Eher schmal kommt sie daher, im Heft-Format, hübsch illustriert in der Art einer Collage: Finn-Ole Heinrichs neue bebilderte Kurzgeschichte Cliffhanger, der ein ganz eigener Band eingeräumt wird. Und ebenso kompakt ist sie auch erzählt. Aus der Perspektive des jungen männlichen Ich-Erzählers Jaromir polnischer Abstammung berichtet Finn-Ole Heinrich von den vermeintlichen sozialen Verlierern der Gesellschaft.
Jaromir ist der klassische Außenseiter: Mit einer infantilen und flatterhaften Mutter, die mal hier mal dort verliebt ist und im Rausch immer voll großer Hoffnungen, dass morgen alles besser oder insgesamt doch gar nicht so schlecht ist:
Mama sitzt da, fröhlich glucksend, neben dem Plastiktannenbäumchen, in Strumpfhose und BH, darüber die neue Jacke und grölt: »Scheiße, ist die warm!«, sie hebt ihre Bierdose in die Höhe und spricht: »Auf meine Mama, auf meinen Sohn, auf scheiß Weihnachten – ich bin die glücklichste Frau der Welt!«
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Von der arbeitslosen Mutter also bei der Oma abgestellt, lebt Jaromir in einem kleinen Universum zwischen Kellerwohnung und Schulhof. Von den fiesen Lippmann-Brüdern wird er verfolgt und verprügelt.
Der Große sagt, dass ich Abschaum bin, »dreckiger Abschaum, so viel wert wie die Pisse aufm Klo, wie Kacke, Polacke«.
Den perfekten Rückzug aus dem Leben bietet der schöne Schein der Seifenoper, eine bunte, verlockende Anderswelt:
Oma und ich, wir schauen unsere Serie. Liebe, Krankheit, Tod, Aufstieg und Fall, Zuneigung, Neid und Intrige, immer und immer wieder. Es fesselt mich. Es ist als würd ich durch ein Fenster in das Leben von anderen gucken, in ein besseres Leben, ein schnelleres, bunteres, schöneres Leben. Es ist so ähnlich wie das eigene: immer was los, immer gibt es irgendein Problem. Aber alles ist interessant und für alles gibt es eine Lösung. So oder so, aber es gibt eine Entscheidung. Und die willst du mitkriegen. Vielleicht ist es das.
Die Serie lebt vor, wie sich dann doch immer alles vom Schlechten zum Guten wendet, für jedes Drama hält sie ein Lösung bereit. Doch: Zum Guten wendet sich in Jaromirs Leben nur Marginales – »Auf der Fensterbank im Aschenbecher keimt die Kresse, obwohl Winter ist.« – während sich der übergroße Rest zum Schlechten wendet: »An Weihnachten kam der Weihnachtsmann. Und drei Wochen später kommt der Gerichtsvollzieher.«
Jaromir träumt sich seine Seifenoper-Rolle zurecht, denn
es gibt ja immer auch die Loser, die Fiesen, die Arroganten. Die, die einfädeln, Spiele spielen, Pläne schmieden, Fallen stellen. Wichtige Figuren. So einer wäre ich. Ich hätte ein Geheimnis. Eine Narbe, etwas Düsteres: Es ist immer auch Platz für einen Jaromir.
Jaromirs Platz in der Soap wird zu Jaromirs Platz im Leben, denn die einfachen Regeln der Seifenoper bieten eine willkommene Erklärung, wenn die Lippmanns mal wieder Prügel verteilen:
So läuft das eben. Immer hat der Held einen Gegenspieler, immer versucht der Held das Problem zu lösen, alles wird immer komplizierter, aussichtsloser. Er muss kämpfen und kriegt auf die Mütze, bis es eskaliert. Und kurz bevor die Werbung kommt, passiert etwas, mit dem man eigentlich nicht rechnen konnte. Nach der Werbung geht’s dann richtig zur Sache. Und Schluss. Das ist der Cliffhanger.
Als Jaromir am Ende drohend die Lippmanns provoziert – »Und dann belle ich dem Lullimann laut und krachend in sein Gesicht.« –, wird der Leser entlassen. Längst ist nicht mehr klar, wo die Realität der Erzählung endet und die Fiktion der Serie beginnt. Das wahre Leben und das bunte Fernsehleben verschwimmen zu einem schäumenden und bedrohlichen Amalgamat.
Was bereits der Titel des letzten Kurzgeschichten-Bandes Gestern war auch schon ein Tag impliziert, wird hier serientheoretisch ausformuliert: Das Leben mit seinen Hochs und Tiefs ist nichts weiter als ein ernüchterndes Fortsetzungsversprechen. Das heile Leben, das die Werbung verheißt, findet an einem anderen Ort statt, während Finn-Ole Heinrichs Figuren permanent über dem Abgrund hängen. Nur steht diese Erzählung allein. Fortsetzung folgt?
Denn zuvor hat Finn-Ole Heinrich sie überwiegend in gebündelter Form publiziert: Als Erzähler von Kurzgeschichten debütierte er im Jahr 2005 mit dem Band die taschen voll wasser, 2009 folgte mit Gestern war auch schon ein Tag ein weiterer Band mit Erzählungen. Sein Roman Räuberhände (2007) wurde von Kulturnews als »ein grandioser Coming-of-age-Roman hoch zwei« gelobt, doch nicht nur als psychologisch-präziser Erzähler und junger »Kleinverlagsstar« (taz) hat sich Finn-Ole Heinrich mit seinen knappen 30 Lebensjahren bisher einen Namen gemacht, auch als Kinderbuchautor – mit seiner Geschichte Frerk, Du Zwerg (2011), die für den deutschen Jugendliteraturpreis 2012 nominiert ist – sowie als Hörbuchautor, grandioser Performer und als Filmemacher beweist er die Vielseitigkeit seiner Talente.
Zusammen mit Hannes Wittmann, alias Spaceman Spiff veröffentlichte er im Jahr 2010 die erste gemeinsame CD Du drehst den Kopf, ich dreh den Kopf, gemeinsame Auftritte, Reisen und Video-Produktionen folgten. Nun ist der 1982 geborene Autor des Mairisch-Verlags in Begleitung des fünfköpfigen Unsortierten Orchesters Oldenburg unterwegs und präsentiert eine runde Mischung aus Lesung, Konzert, Installation und Performance:
Ein Abend, der in die Beine geht, der Spaß macht und betroffen, der Ohren, Augen und Hüften kitzelt, bei dem Bonbons fliegen und der trotzdem alles andere als seicht und leicht ist. Ein Abend, der unter die Haut geht und an den richtigen Stellen weh tut. Ernst und witzig. tragisch und komisch. Unsortiert und aufgeräumt.
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