Die aufgrund des Schuldenabbaus der Stadt Göttingen drohende Fusion von JT und DT hing vor zwei Jahren noch wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Theatermacher. Man prophezeite den Verlust kultureller Diversität und kritisierte den Kooperationsunwillen des einen sowie die betriebswirtschaftlichen Defizite des anderen. Doch nun: Tabula rasa. Die Zusammenlegung ist längst vom Tisch, zwei neue Intendanten übernehmen das Steuer und alte Befindlichkeiten dürfen endlich vergessen werden. Zwei wichtige Neuanfänge, die wir uns in zwei Artikeln genauer ansehen wollen. Wir beginnen mit dem Deutschen Theater, das nicht nur »NEU«, sondern künftig auch »für alle« sein will.
Von Johanna Karch
Der wie sein Vorgänger Mark Zurmühle aus der Schweiz stammende neue Intendant des Deutschen Theaters, Erich Sidler, hat nicht wenige Stationen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft durchlaufen. Der 49-Jährige machte nach seinem Regie-Studium in Zürich unter anderem in Hannover, Stuttgart, Essen und Linz auf sich aufmerksam. In Göttingen führte er bei Alle 16 Jahre im Sommer Regie, die Stadt dürfte ihm also nicht ganz unbekannt ist. Sein letztes festes Engagement hatte er von 2007 bis 2012 am Stadttheater Bern, das die wohl prägendste Zeit seiner bisherigen Karriere gewesen sein dürfte: Nicht nur reformierte er mit außerordentlichem Erfolg den maroden Theaterbetrieb (dessen Spielstätte nicht mal eine Bushaltestelle hatte) und sorgte dafür, dass sein Chef wegen zweifelhafter Mittelverteilungspolitik den Schreibtisch räumen musste, er legte sich auch mit Journalisten an, deren Stückbesprechungen ihm ungerecht erschienen. »Er ist durchaus ein streitbarer Geist« räumte die Göttinger Kulturdezernentin und Leiterin der Findungskommission Dagmar Schlapeit-Beck bei der Vorstellung Sidlers im Februar ein, »unter anderem deswegen haben wir ihn auch einstimmig gewählt«. Eine mutige Entscheidung, bedenkt man, dass Sidler nicht zögert, auf Konfrontationskurs zu gehen.
Dass das Theater durch den unliebsamen aber wohl nötigen Entschuldungshilfevertrag von Mittelkürzungen betroffen ist, die es durch bessere Besucherzahlen auszubalancieren gilt, ist dabei kein Willkommensgeschenk. Aber Sidler weiß, worauf er sich in Göttingen einlässt. »Der Geiz ist der Fluch, der in Kauf genommen werden muss, er ist die Kehrseite von allem, was über Erhalt und Entwicklung hinausgeht«, gibt er im Vorwort des neuen Programmheftes zu bedenken. In einem wankenden Schiff fällt um, wer stillsteht und sich nicht bewegt. Und bewegen will er sich, der neue Intendant, vor allem auf das Publikum zu: »Investieren Sie in Emotionen. Investieren Sie in Erlebnisse!«. Mit seinem »Theater für alle« möchte Sidler mit 26 Premieren von Oktober bis Juni mehr ZuschauerInnen ins DT locken. Ihm behilflich sein werden u.a. Philip Hagmann, der ebenfalls aus der Schweiz kommt, sowie Sara Örtel und Sonja Bachmann, allesamt jung, aber nicht unerfahren.
Alles »NEU«…… prangt es in plakativer Manier von den Göttinger Littfasssäulen und Werbetafeln. Das neue Design aus schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund und filigranen bunten Grafiken sticht mit seiner unverkennbaren Botschaft ins Auge: es wird Veränderungen geben, das DT gibt es nicht mehr, fortan sprechen wir wieder in ausbuchstabierter Form vom Deutschen Theater.
Radikale Veränderungen sind dem Ensemblekollektiv allerdings erspart geblieben. Erfahrene Schauspieler wie Gaby Dey, Florian Eppinger, Lutz Gebhardt oder Andrea Strube bleiben, gäben sie dem neuen Ensemble doch die nötige Sicherheit und leisteten unverzichtbare Schützenhilfe. Die braucht es auch, denn Sidler holt immerhin die Hälfte der 26 festen Mitglieder neu ins Boot; darunter Felicitas Madl, Benedikt Kauff und Emre Aksizoğlu, der sich am Ballhaus Naunystraße einen Namen machen konnte. Um interessante Persönlichkeiten mit Kontur sei es bei der Wahl seiner SchauspielerInnen vorrangig gegangen, und nicht um Vorgabenerfüllungen oder Migrationsquoten. Das »neue Gesicht des Hauses«, so der Intendant, wird mit Rebekka Kricheldorfs Gesellschaftsutopie Homo Empathicus am 3. Oktober der Öffentlichkeit seine Spielfähigkeit präsentieren. Ein Stelldichein aller alten und neuen SchauspielerInnen, unter der Regie des neuen Chefs.
Weniger eng auf der Bühne wird es beim Ein-Personen-Stück Das Erdbeben von Chili nach Heinrich von Kleist zugehen, das Sidler mit der Schauspielerin Monika Lennartz 2001 am Maxim Gorki Theater in Berlin erarbeitet hat. Mehr große Namen mit Wiedererkennungswert: Shakespeares Ein Sommernachtstraum, Ein idealer Gatte von Oscar Wilde, Max Frischs Biedermeier und die Brandstifter oder Dea Lohers Fremdes Haus (ja, die zählen wir auch schon zu den Klassikern!) dürften die Zugpferde der Göttinger Theaterliebhaber sein.
Schwarz-weiß-bunt: Das neue Design des Deutschen Theaters.
Doch mit Altbekanntem lassen sich nur schwerlich die Zielgruppen erweitern. Die thematische Neuausrichtung geht ganz klar in Richtung Netzweltvermessung und Jugendkultur und spiegelt damit nicht nur die Interessen Sidlers an der Gegenwartsdramatik wider, sondern löst auch das Versprechen ein, Theater zum Resonanzraum des Zeitgeschehens zu machen. Dementsprechend wollen wichtige Fragen auf die Bühne gebracht werden: In Information wants to be free geht es um die Demokratisierungsprozesse im Internet, aus der Sicht völlig unterschiedlicher Figuren: Super-Hacker Eli gründet eine Wiki-Leaks-Plattform, auf der Videos Kriegsgräueltaten zeigen. Twitterin Djamila wird durch ein eigens lanciertes Pornovideo mit einem Journalisten im Netz berühmt. Wieviel Inszenierungszwang steckt im Netzauftritt und wie echt sind wir im wirklichen Leben?
In Felicia Zellers X – Freunde fragt das Deutsche Theater nach den sinnstiftenden Kräften von heute. Wertet die ständige Erreichbarkeit und Verfügbarkeit auf immer mehr »sozialen« Kanälen unser Leben auf oder steuern wir hyperkommunikativ auf eine kulturelle Katastrophe zu? Das Stück wurde 2013 für den Mühlheimer Dramatiker-Preis nominiert und mit dem Hermann-Sudermann-Preis ausgezeichnet.
Den Schattenseiten der digitalen Revolution ist Roland Schimmelpfennig auf der Spur: Während wir uns mit redundantem Geplänkel die Finger wund wischen, bauen Arbeiter im Kongo unter unmenschlichen Bedingungen Coltan ab, das ein zentraler Bestandteil von Tablet, Smartphone und Laptop ist. Der aus Göttingen stammende Dramatiker spürt in Spam. Fünfzig Tage den ausbeuterischen Vorbedingungen unserer Kommunikations-Obsession nach.
Ein verstörender Thriller, der zum ersten Mal in deutscher Sprache aufgeführt wird ist das Stück Grooming (UA 2012 in Madrid) von dem spanischen Dramatiker Paco Bezzera. Verhandelt wird darin die Krankheit Paraphilie, eine »dranghafte und ausgeprägte sexuelle Fantasie, die sich auf unbelebte Objekte, Schmerz, Demütigung oder nicht einverständnisfähige Personen bezieht«. Im virtuellen Raum sind die Ausmaße dieser Störung viel unbedeutender als im echten Leben. Oder nicht?
Nach dem Spiel in die mixed zoneRäumliche Veränderungen waren dem neuen Leiter des Hauses sehr wichtig. Dazu gehört zum einen ein sozialförderndes Interieur: dezentrale Garderoben weichen einer neuen Bestuhlung, im Vorraum wird eine Bühne für Stückbesprechungen eingerichtet und ein Barbetrieb lädt zum spontanen Umtrunk ein, bei dem das Ensemble und die Besucher in Kontakt kommen sollen. Zudem wird die Entscheidung, ob ein Stück im Großen Haus (fortan DT1) oder im Studio (DT2) zur Aufführung gebracht wird nicht mehr an seiner Relevanz bemessen, sondern thematisch gegliedert. Stofflich homogene Stücke werden im DT1 gezeigt, experimenteller und weitaus moderner geht es im DT2 zu. Raumsemantisch bestens ausgeklügelt: Der Keller (DT X) soll zum »Keller der Überforderung« werden. Gemimt wird dort beispielsweise Darlene Craviottos Pizzaman, das von der versuchten Vergewaltigung eines Mannes durch zwei neurotische beste Freundinnen erzählt.
Beigeordnet werden der Sortierung DT X zudem die Stücke, die außerhalb des Hauses aufgeführt werden, darunter auch die, die in Kooperationen mit dem Jungen Theater realisiert werden. Denn, ja, man ist sich endlich einig geworden mit der kleinen Schwester: jedes Haus soll sein eigenes Publikum bedienen, wobei die Entscheidungsbefugnisse über Stückzahl und Ensemble abwechselnd beim JT und beim Deutschen Theater liegen. Das Bühnenbild und die Kostümausstattung werden bei Kooperationsveranstaltungen vom Deutschen Theater gestellt.
So geschieht es auch im wiederaufgenommen Stück Verrücktes Blut, das der frisch gebackene JT-Intendant Nico Dietrich in der letzten Spielzeit noch im Deutschen Theater zur Aufführung brachte. Darin geht es um eine überforderte Hauptschullehrerin, die »endgültig die Schnauze voll hat« und möchte, dass »endlich mal alle die Fresse halten!«. Mit Waffengewalt hält sie ihre Schüler so lange gefangen und exerziert Schillers Räuber, bis auch die letzte Silbe sitzt.
Neues Leitungsteam (v.l.n.r.): Philip Hagmann (Dramaturgie), Erich Sidler (Intendant), Inge Mathes (Öffentlichkeitsarbeit/Marketing), Gabriele Michel-Frei (Theaterpädagogik), Matthias Heid (Chefdramaturg), Sonja Bachmann (Dramaturgie und Leitung Programm für Kinder und Jugendliche) und Sara Örtel (Dramaturgie).
Ästhetisch erziehen will das Deutsche Theater mit einem großen Angebot für Schulen: Ein Kinder- und Jugendclub, Workshops und Kurse, Stückprojekte oder Backstage-Führungen sollen das »Theater für alle« im Bewusstsein der jüngeren Generation verankern. Dazu gehört auch ein intensivierter Schulservice, der das Lehrpersonal in punkto Stückeauswahl und Vor- und Nachbereitung im Unterricht berät. Sonja Bachmann, Programmleiterin für die Kinder- und Jugendstücke ist guter Dinge, die Zusammenarbeit mit Schulen der Region weiter ausbauen zu können.
Das erklärte Ziel des neuen Teams ist es, in den Dialog mit der Stadt zu treten. Doch dazu braucht es erstmal Zeit. Zum Ankommen, zum Sondieren und zur Stoffauswahl. Wirklich regionsspezifische Themen bleiben vorerst aus. Das macht das Repertoire aber nicht unattraktiv.
Ich bin gespannt, wie die “Alles Neu und sofort” Strategie beim Göttinger (Dino-)Publikum ankommt. Hoffentlich fällt Herr Sidler mit seinem themporeichen Radikalismus nicht auf die Nase. Ich bin noch skeptisch… Lasse mich aber gern überraschen.
Achja: “Radikale Veränderungen sind dem Ensemblekollektiv allerdings erspart geblieben”.. Ich würde das schon als radikale Veränderung bezeichnen!
[…] dazu kann man zum Beispiel auf Litlog hier und hier lesen und da Theaterbesuche dank unseres tollen Kulturtickets rein gar nichts kosten, sind […]