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Wissenschaftliche Rezension
DDR-Literatur auf einen Blick

Mit Metzlers Lexikon DDR-Literatur legen Michael Opitz und Michael Hofmann erstmals ein umfassendes Instrumentarium zur Erforschung der so genannten DDR-Literatur vor, das in jede Bibliothek gehört.

Von Ronald Weber

Seit Ende der sechziger Jahre bildet die Forschung zur DDR-Literatur einen festen Bestandteil der westdeutschen Germanistik. Mit der Öffnung der Archive nach dem Ende der DDR nahm die Beschäftigung mit dem nunmehr zeitlich abgeschlossenen Forschungsgebiet einen raschen Aufschwung, was sich in grundlegenden Publikationen zum Literatursystem, erweiterten Darstellungen der Literaturgeschichte und Quelleneditionen ausdrückte. Während zum kulturpolitischen System seit den achtziger Jahren Handbücher existieren1, fehlte es bislang an einem umfassenden Lexikon zur DDR-Literatur, das auch die Funktion eines Autorenlexikons erfüllt. Mit dem Metzler Lexikon DDR-Literatur haben Michael Opitz und Michael Hofmann diese Lücke geschlossen.

Da es viele DDR-Autoren nach 1990 nicht in die nunmehr gesamtdeutschen Lexika ‘geschafft’ haben, musste sich, wer literarische Biographien von jenseits auch in der literarischen Öffentlichkeit der BRD breit rezipierten DDR-Autoren nachschlagen wollte, bisher mit Lexika aus der DDR begnügen. Diese sind zwar auch nach wie vor in bio-bibliographischer Hinsicht verlässlich, reflektieren aber nicht den neuesten Stand der Forschung. Neben dem beständig erweiterten Lexikon Wer war wer in der DDR?2, das aber als allgemeines biographisches Lexikon der DDR konzipiert ist, blieb so zumeist nur wikipedia.

Das Metzler Lexikon DDR-Literatur schafft hier in mancher Hinsicht Abhilfe, indem es auf »bekannte und weniger bekannte Autoren« eingeht, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen. Neben dem wohl letzten noch lebenden Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Elfriede Brüning finden sich so erfreulicherweise auch Einträge zu dem für die Produktionsliteratur wichtigen Dramatiker Paul Gratzik oder zum fast vergessenen, seinerzeit auf den Bühnen der DDR erfolgreichsten Lustspielautor Rudi Strahl.

Selbstverständlich sind die großen Namen vertreten: Volker Braun, Peter Hacks, Christoph Hein, Hermann Kant, Irmtraud Morgner, Heiner Müller oder Christa Wolf werden in jeweils zwei- bis dreiseitigen Einträgen behandelt. Im Aufbau gleichen sich die Autorenartikel: Nach einem kurzen biographischen Abriss folgt eine längere Werkdarstellung mit Kurzbeschreibungen einzelner Texte und der Würdigung personenrelevanter Ereignisse. Aufgrund des weiten DDR-Literatur-Begriffs werden die Biographien der Autoren auch über die Wendezeit hinaus dargestellt.

Dass manche Autoren fehlen, ist mit der grundsätzlichen Begrenztheit eines allgemeinen Lexikons zu erklären, das mit rund 400 Seiten natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will und nicht jedes Spezialgebiet abdecken kann. So erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass Autoren wie Boris Djacenko, der mit seinem Roman Herz und Asche in den fünfziger Jahren großen Erfolg hatte, danach aber vor allem als Kriminalautor aufgetreten ist, unerwähnt bleiben. Warum die Dramatiker Alfred Matusche und Georg Seidel oder der 1959 zurück in die BRD übergesiedelte Heinar Kipphardt (der 1965 ebenfalls in die BRD geflüchtete Dramatiker Hartmut Lange findet zumindest Erwähnung) über keinen eigenen Eintrag verfügen, verwundert dann aber doch.

Neben gattungsspezifischen Defiziten – die Dramatiker sind insgesamt unterrepräsentiert – offenbart das Lexikon insbesondere hinsichtlich der verschiedenen Phasen der DDR-Literatur Schwächen. Einträge zu Autoren, die vor allem in den fünfziger Jahren gewirkt haben, nehmen im Vergleich zu Autoren der siebziger und achtziger Jahre deutlich weniger Raum ein. Für die Literaturgeschichte der fünfziger Jahre durchaus wichtige Schriftsteller wie Harald Hauser, Karl Grünberg oder Joachim Knauth wurden gar nicht aufgenommen. Leider äußern sich die Herausgeber in ihrem Vorwort nicht zu den ihrer Auswahl zugrunde liegenden Kriterien. So entsteht der Eindruck, dass das pünktlich zum 20. Jahrestag des Mauerfalls erschienene Lexikon mit heißer Nadel und unter großem Zeitdruck entstanden ist, zumal auch dem Lektorat einige Fehler unterlaufen sind.

Nichtsdestotrotz erfüllt das Lexikon seine Aufgabe als wissenschaftliches Hilfsmittel, das »dem Bedürfnis, mehr über die Literatur der DDR erfahren zu wollen« (Vorwort) nachkommt, in hervorragender Weise, weil es neben Autoren auch auf zentrale Begriffe und Topoi, Institutionen des literarischen Systems wie Verlage und Zeitschriften sowie gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen eingeht. So finden sich neben Einträgen über die »Ausschlüsse aus dem Schriftstellerverband 1979«, den »Bitterfelder Weg«, den »17. Juni 1953« oder den kulturpolitischen Kampfbegriff »Sozialistischer Realismus« auch solche zu »Umwelt und Literatur«, »Druckgenehmigung« oder »Jüdische Autoren in der DDR«.

Während so die wichtigsten Institutionen, Begriffe, Themen und Aspekte abgedeckt sind, bleibt der Zugang in gewisser Weise dennoch selektiv, beispielsweise fehlt ein Eintrag zur Kultur- bzw. Literaturpolitik. Auch welche Bedeutung der »Kulturkonferenz der FDJ« von 1982 zukommen soll, scheint nicht nachvollziehbar. Ansonsten hätten die Herausgeber auch die Kulturkonferenz der SED von 1957 aufnehmen können, die einen wesentlichen kulturpolitischen Schritt hin zum Bitterfelder Weg und zur Öffnung des Traditionsbegriffs gegenüber der allgemein abgelehnten Agit-Prop-Literatur – einem Begriff den man im Übrigen gänzlich vermisst – markiert.

Diese Detailkritik soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Lexikon besonders (aber nicht ausschließlich) für Studenten, die sich erstmalig mit der Literatur der DDR beschäftigen, eine große Hilfe ist. Wer an einer Hausarbeit sitzt und herausbekommen will, welche Bedeutung dem Verlag Volk und Welt oder dem Begriff »Leseland« zukommt, wird hier schnell fündig werden. Die einzelnen Artikel sind zumeist auf hohem Niveau verfasst und bieten mit den weiterführenden Literaturangaben eine umfassende Orientierung. In diesem Zusammenhang ist auch die den Band abschließende Auswahlbiographie hervorzuheben.

Ob die DDR-Literatur zwanzig Jahre nach dem Untergang des »ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden« weiter existiert und Lyriker wie Thomas Rosenlöcher auch mit ihren aktuellen Texten noch unter diesen Begriff fallen, ist in der Forschung umstritten. Ebenso wie der Begriff »DDR-Literatur« selbst bisher keine allgemein anerkannte Definition gefunden hat. Das reflektiert auch das Lexikon unter demselben Begriff und verdeutlicht so, welche wissenschaftlichen Probleme eine Literatur, die sich jenseits von Schematisierungen und Vereinfachungen weder thematisch, noch zeitlich oder räumlich als die DDR-Literatur bestimmen lässt, der Forschung auch in Zukunft bereithalten wird.

Den Begriff DDR-Literatur offen zu halten und in all seinen Facetten wiederzugeben, diesen von Wolfgang Emmerich in seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR formulierten Anspruch3, erfüllt das Metzler Lexikon DDR-Literatur in jeder Hinsicht. Bei denjenigen Studierenden und LiteraturwissenschaftlInnen, die sich mit der Literatur- und Kulturgeschichte der DDR beschäftigen, wird es in Zukunft seinen festen Platz im Bücherregal finden.

  1. Vgl. Kulturpolitisches Wörterbuch. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik im Vergleich, hg. von Wolfgang R. Langenbucher, Stuttgart: Metzler 1983.
  2. Auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung auch online abrufbar: http://www.stiftung-aufarbeitung.de/service_wegweiser/werwarwer.php
  3. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausg., Leipzig: Kiepenheuer 1996, S. 21.


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 Veröffentlicht am 7. September 2010
 Kategorie: Wissenschaft
 Bild von Nasos3 via flickr
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