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Den Dingen auf den Leim gehen

Die Party ist vorbei. In diesem Sommer feierte die Universität Göttingen ihren 275. Geburtstag und verlor fast gleichzeitig ihren Elite-Status. Auch von den Feierlichkeiten ist nur noch die Ausstellung Dinge des Wissens in der Paulinerkirche samt Begleitband übrig geblieben. Noch bis zum 7. Oktober hat sie geöffnet. Die Monsters of Göttingen nehmen sie für LitLog in zwei Gastbeiträgen auseinander. Und setzen sie wieder zusammen. Kritisch beäugt werden die Dinge des Wissens heute von harvey.

Von harvey / Monsters of Göttingen

Ganz bestimmt: Die Ausstellung versteht es, ihre Exponate hervorragend in Szene zu setzen. Das Licht ist perfekt, jeder Gegenstand gut ausgeleuchtet. In seriösem anthrazit sind die Tische gehalten, selbst die Typographie ist schnörkellos, funktional und doch freundlich. Solide gemachte Videobeiträge laufen jeweils an einem eigenen Monitor in Endlosschleife – etwas unglücklich, da so meistens ein Einstieg mitten im Beitrag erfolgt. Es ist aber sichtbar: Viel Arbeit ist in die Vorbereitung, in die Präsentation geflossen.

Die Irritation kommt schleichend, und sie wird immer größer. Nach erstem ziellosen Herumstreunen, nur dem Unterbewusstsein folgend, will das Bewusstsein plötzlich: Wissen. Davon war schließlich auch im Titel die Rede. Nun fallen die Beschreibungstäfelchen ins Auge. Sie sind kurz gehalten, geben den Dingen Namen und erwähnen Details zur Herkunft. Dann gibt es die Abteilungen der Ausstellung, offensichtlich präsentiert mit großen roten beleuchteten Schriftzügen, die über den Exponaten schweben. Ein Gefühl bleibt: Irgendetwas fehlt.

Warum stehen diese Dinge hier? Warum sind sie »Dinge des Wissens«? Das Skelett der Giraffe, das imposant in der Mitte aufgestellt ist – welches Wissen enthält es, speichert es, präsentiert es? Die Mumie, die – verschämt? – nicht unterhalb der Augenhöhe der Betrachter_innen präsentiert ist, sondern oberhalb liegt, was hat sie mit dem »Wissen« zu tun? Jemand hat ihr ein Loch in den Kopf gemacht. Am Anfang ist es etwas schwierig, den Blick darauf zu halten. Das Loch ist aber alt, sehr alt. Nicht so alt wie die Mumie, aber wenn Dinge schon lange tot sind, dann sind sie selbst in einem noch so geschundenen Zustand leichter anzusehen. So langsam wird aber klar: Mit dieser Mumie hatte schon einmal jemand ein ähnliches Problem wie ich, der Besucher, der ein wenig verwirrt vor ihr steht. Irgendetwas muss darin sein. Warum nicht »Wissen«? Wenn Wissenschaftler einer Mumie ein Loch in den Kopf machen, finden sie dann immer Wissen darin?

Viele der ausgestellten Dinge waren einmal Menschen oder Tiere. Das ist in der Ausstellung nun völlig unwichtig geworden. Jetzt sind sie eben Dinge, »Dinge des Wissens«. Zahllose menschliche Schädel – die Diskussion darum, ob es ethisch vertretbar ist, sie auszustellen, wird verschämt in einem Aufsatz im umfangreichen Ausstellungsbegleitband geführt. Als Besucher der Ausstellung werde ich damit nicht behelligt – oder vielmehr: werde ich mit dieser Frage allein gelassen. Die »Blumenbachsche Schädelsammlung« – kein Wort über die zweifelhaften Forschungsziele, die dahinterstehen.

Die Ausstellung öffnet dem Besucher nach und nach die Augen. Nein, »Dinge des Wissens« sind es nicht. Es sind Fetische der Universität, der »akademischen Kultur«, die sich so gern zum Zentrum des Wissens erklärt. Wissenschaftler haben all diese Dinge gesammelt, deshalb werden sie als »Dinge des Wissens« vorgeführt. Ein Kontrast fällt plötzlich ins Auge: Die wahren »Dinge des Wissens« stehen ringsum. Es sind die Bücher, und im Ausstellungsraum, der Paulinerkirche, stehen beeindruckend alte Exemplare. Wissenschaftlich kann vermutlich eine Skizze die Mumie ersetzen, eine andere das Skelett der Giraffe. Eine Reisebeschreibung sagt möglicherweise mehr aus, als ein eingesammeltes und nach Göttingen verbrachtes Musikinstrument aus einer kleinen indigenen Kultur.

Zusammen mit den Büchern bleibt ein weiterer Eindruck: Der Besucher steht in einem Konservatorium, einem Mausoleum einer idealisierten Universität. Hier präsentiert sich die Universität wie sie gern wäre – oder jedenfalls Teile von ihr gerne wären -, aber nie war. Freilich: Es stehen hier komplexe Geräte, seltene Sachen. Doch diese waren allenfalls Hilfsmittel, vielleicht auch nur etwas, was der Fokussierung auf bestimmte Forschungsfragen diente. Dem Besucher wird all das vorgesetzt, damit er es bestaunen kann. All das enthaltene Wissen ist lang schon nicht mehr da, aus den Dingen verschwunden und steht nun in Dokumenten, auf Leder, Papier und immer mehr digitalen Datenträgern.

Ausstellung


Georg-August-Universität Göttingen (Hg.):
Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen.
Wallstein: Göttingen 2012
350 S. mit 315 farb. Abbildungen, 19,90 Euro.

Die Ausstellung Dinge des Wissens ist vom 3. Juni bis 7. Oktober 2012 in der Paulinerkirche, Papendiek 14, zu sehen.
Öffnungszeiten: Di – So 11 – 18 Uhr

 

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Göttingen, »die Stadt die Wissen schafft«, hat ein Problem: ein Vermittlungsproblem. Ausstellungen, die ein Kuriositätenkabinett aufbauen, um Sympathien und Geld für die Universität einzuwerben und so auch ein Bild dieser Stadt zu prägen versuchen, führen in die Irre. Das ausliegende Gästebuch verrät, dass viele Schulklassen schon da waren. Wieviel »Wissen« haben die wohl mitgenommen? Mit etwas Glück haben sie die Wirbel der Giraffe gezählt. Oder einmal geschaut, wieviele Schädel von Menschen sich in der gesamten Ausstellung finden. Oder den Primatenschädeln tief in die Augen geschaut. Darauf hätten sie aber von selbst kommen müssen. Die Universität hat ihnen das alles nur recht kommentarlos vor die Nase gestellt, einen Namen daneben geschrieben und alles gut ausgeleuchtet.

Am Ende – jedenfalls sei das als Abschluss eines Besuchs dringend empfohlen – findet sich der Besucher vor dem Terrarium mit den Pfeilgiftfröschen. Sie bilden den härtesten Kontrast dieser Ausstellung. Das kleine Terrarium schwillt fast über vor lauter Leben: allerlei Pflanzen, Wasser und versteckt irgendwo im Dunkleren die metallisch neongelben und -blauen Frösche. So viel Tod ringsum auch ist, so viel Leben ist hier gefangen.

Später, daheim, holt der Besucher ein wenig nach, was so gefehlt hat. Pfeilgiftfrösche verlieren ihre Fähigkeit, Gift zu produzieren, wenn sie in Gefangenschaft leben, verrät die Wikipedia. Über Giraffen und Goldmünzen, stumpfe Gewalt gegen menschliche Schädel, Mumien und Höhlenmalerei ist auch eine Menge zu erfahren. Wenn demnächst Verwandte zu Besuch kommen, dann geht es wieder in die Ausstellung. Da gibt es was zu gucken, und »wissen« wollen die bei solchen Gelegenheiten sowieso nicht unbedingt viel. Da kommt so eine Ausstellung genau richtig.



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 Veröffentlicht am 2. Oktober 2012
 Kategorie: Misc., Wissenschaft
 Bild von den Monsters of Göttingen
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Kommentare
 Wolfgang Berning
 4. Oktober 2012, 13:37 Uhr

Zum “Ötzi” Museum nach Bozen fahren. Kopieren!

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