Thomas Lehr nähert sich mit seinem jüngsten Roman September. Fata Morgana dem Medienereignis des noch jungen Jahrtausends an – 9/11. Mit Einzelschicksalen versucht der Autor die allzu bekannten Bilder gleich durch mehrere individuelle Blickwinkel zu ersetzen. Die Vorahnung, dass eine solch persönliche Perspektive tiefer greift, aber keineswegs angenehmer ist, erweist sich als erschreckend zutreffend.
Von Till Deininger
Aus der Perspektive der Opfer zeigt Thomas Lehr dem Leser die unerbittliche Willkür der Geschichte. Die »Helden« dieser Geschichte trifft es denkbar hart: Zwei Väter und zwei Töchter in New York und Bagdad – auf beiden Seiten geht, was zum Bleiben bestimmt war. Wie Martin verliert auch Tarik eine Tochter. Mit viel Gespür für die Beziehungen bringt Thomas Lehr dem Leser die Familien erst nahe, um sie anschließend zu zerstören – jeder leidet auf seine Weise und unter seinen Umständen. Bestimmt bei Martin, dem deutschen Professor für Literaturwissenschaft, die Retrospektive, ist es bei Tarik, dem praktizierenden Arzt im Kriegsgebiet, der Schrecken der Gegenwart. Das Ohnmachtsgefühl der Geschichte gegenüber verbindet die beiden Väter. Auch bei den Töchtern fehlt es nicht an Anknüpfungspunkten: Die erste Liebe und die Pläne für die Zukunft maximieren die Fallhöhe – für beide Väter und für die Leser. Diese Parallelen lassen die Grenzen zwischen den Ländern nebensächlich erscheinen. So sind auch die Übergänge der Kapitel, die aus den vier Perspektiven von Martin, Tarik, Sabrina und Muna geschrieben sind, fließend verfasst.
Sprache ohne Grenzen
»Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt.« Diese These von Johann Wolfgang Goethe stellt Thomas Lehr seinem Roman voran. Daraus folgert Lehr, so weiß der Leser am Ende der fünfhundert Seiten, dass sich nichts grundlegend geändert hat. Auch die Macht der Medien kann daran nichts ändern – ganz im Gegenteil.
Man leidet mit den Protagonisten unter den sich stets im Fernsehen wiederholenden Bildern: Auf der einen Seite die vom Einsturz des World Trade Centers, auf der anderen Seite Bilder wie jene aus Abu-Grahib, die zeigen, dass sich die angeblichen Befreier des Irak mehr und mehr wie Besatzer aufführen. Dass Orwell zum Verständnis dieser Welt beiträgt, führt dem Leser die Absurdität auch der eigenen Realität vor Augen. Ausgerechnet Orwell, der Urvater aller Medienkritik, dient den Leidenden als Gebrauchsanleitung – wahlweise im Mediendschungel oder angesichts der Willkür einer bedrohten Diktatur. Es ist die Aktualisierung der These Goethes, die das Buch leistet: Der Irrgarten ist durch die Datenhighways global vernetzt. Der Leser erkennt, dass zwischen New York und Bagdad oft nur eine digitale Hecke steht.
Bei der nächsten Veröffentlichung von WikiLeaks werden Lehrs Leser hinter den neuen harten Fakten Gesichter und ihr persönliches Schicksal sehen. Das ist der größte Erfolg, den ein Buch haben kann.