Kompromisslos stellt Diederich Heßling, der Held aus Heinrich Manns Roman Der Untertan, klar, wie mit Feinden zu verfahren sei, und Feinde wittert er überall. Das DT Göttingen gewährt Einblicke in die Logik eines autoritären Charakters.
Von Stefan Walfort
Während der kleine Diederich (Benedikt Kauff) auf der Bühne noch am Boden robbend mit Bauklötzchen spielt, ist auf der Tribüne bereits seine Zukunft zu sehen: Zirka ein Dutzend Verbindungsstudenten hat sich am 10. Mai 2016 unters Publikum gemischt. Manche tragen ihre Brustbänder zur Schau. Andere hatten sie nach einem Gruppenfoto vorm Gebäude abgestreift und weggesteckt, bevor sie das DT betraten. Ihr Besuch irritiert. Hat er mit Masochismus zu tun? Ist ihnen der satirische Gehalt der Textgrundlage entgangen? Ahnen sie nicht, wie unmissverständlich die inzwischen anachronistische Weltsicht der Wilhelminischen Ära, der sie noch immer nachzutrauern scheinen, auf die Schippe genommen werden wird? Unwillkürlich drängen sich einige Verse aus Heinrich Heines Wintermärchen auf: »Sie stelzen noch immer so stolz herum, so kerzengrade geschniegelt, als hätten sie verschluckt den Stock, womit man sie einst geprügelt.«
Hiebe und GebeteHiebe sind bei den Heßlings an der Tagesordnung; schließlich soll der kleine Diederich möglichst früh lernen, welche Konsequenzen ungebührliches Benehmen zeitigt. Schon früh lernt er, sich daran zu ergötzen, wenn auch die Mitmenschen sanktioniert werden. Deshalb plagen ihn keinerlei Skrupel, als er die Arbeiter der väterlichen Fabrik denunziert, nachdem diese sich während der Arbeitszeit Bier geholt hatten. Schon früh lernt er, Autoritäten zu fürchten und zugleich zu bewundern. Nebst der Prügel folgen auf Missetaten stets Gebete für das Wohlergehen des Kaisers. Schon früh lernt Diederich, sämtliche Emotionen auf die Dynastie der Hohenzollern zu richten: Sein Kinderzimmer schmückt ein silbern umrahmtes Porträt Wilhelms II., auf dem der preußische Adler thront. An den Wänden hängen gerahmte Gedichte, in denen es unter anderem heißt: »Der Kaiser ist ein lieber Mann und wohnet in Berlin, und wär es nicht so weit von hier, so lief ich heutʼ noch hin.« Dementsprechend schickt ihn der Vater vom Geburtsort Netzig gen Berlin, wo Diederich Chemie studiert, sich der Burschenschaft Neuteutonia anschließt, sich einerseits vorm Wehrdienst drückt, andererseits gegenüber den Neuteutonen im Brustton der Überzeugung den Wehrdienst zur Tugend erklärt. In Berlin promoviert er. Unter Verweis auf den Doktortitel stellt er seinen Aufstieg in eine höhere hierarchische Position mit aller nur erdenklichen Arroganz zur Schau.
Diederichs schwarz-weiße WeltVielfach dominieren Elemente des Erzähltheaters. Andrea Strube, Andreas Jessing und Benjamin Kempf ermöglichen rasche Szenenwechsel, indem sie in immer wieder neue Rollen schlüpfen. Hatten sie sich eben noch mit dem Sprechen von Passagen der von der Textvorlage vorgegebenen Erzählinstanz abgewechselt, so verkörpern sie plötzlich Diederichs aufgespaltenes Ich. Im Chor sind sie immer wieder darum bemüht, es mit einer einzigen Stimme sprechen zu lassen. Am besten gelingt das, wenn Diederich dem Kaiser zujubelt oder Ressentiments über vermeintliche Sündenböcke ausspuckt. Nur dann fühlt er sich wohl. Nur dann ist er im Gleichgewicht. Die Welt hat er aufgeteilt in Helden und Schurken; vermutlich litte er jenseits von Schwarz und Weiß unter völliger Konfusion.
Nichts verinnerlicht Diederich intensiver als nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Dementsprechend mutet ihm das Vorgehen der Staatsmacht zu zögerlich an, als diese während einer kaiserlichen Parade versucht, eine Demonstration von Arbeitslosen auf ihrer Route zum Schloss abzudrängen. Gegen »den inneren Feind«, wie Diederich die um Brot und Arbeit flehenden Menschen nennt, plädiert er dafür, keinerlei Gnade walten zu lassen: »Kanonen sollte man auffahren«. Mit dem Beschluss, nach Netzig zurückzukehren, die Fabrik des inzwischen verstorbenen Vaters zu übernehmen, um in dem vermeintlich unter Sittenverderbnis leidenden Betrieb »eine ganz andere Zucht einzuführen«, steuert das Stück unbeirrt auf den Höhepunkt zu. Diederich beschließt: »Sozialdemokraten werden nicht mehr geduldet, und sonntags sollen die Leute zur Kirche gehen«. Dem Publikum zugewandt prophezeit er mit einer flammenden Rede allen Folgsamen eine paradiesische Zukunft. Aufrührern hingegen malt er in finstersten Farben aus, wie wenig künftig mit ihm zu spaßen sein wird. Nahtlos reiht sich seine Freude über den gewaltsamen Tod eines jüngst wegen »öffentlich begangener unsittlicher Handlungen« entlassenen Arbeiters ein in eine Fülle von Vorkommnissen, durch die gewarnt sein muss, wer Diederichs Gunst zu verspielen droht. Benedikt Kauff leistet in der Rolle Großartiges: Niemand vermag daran zu zweifeln, dass auf der Bühne, wie es die Textvorlage auf den Punkt bringt, tatsächlich ein »Mensch im gefährlichsten Zustand des Fanatismus« seine hässlichsten Gelüste ausagiert.
Verzweifelter TrotzZuletzt spielt Diederich wieder mit Bauklötzchen. Der Infantilität ist er noch immer nicht entwachsen. Auf einem Tisch gruppiert er Häuschen um einen Marktplatz. In dessen Mitte platziert er ein Denkmal des zu Rosse thronenden Kaisers. Mit geschwellter Brust begutachtet Diederich das Kunstwerk. Selbstverständlich kann kein noch so inbrünstiges Faible für die Macht, kein noch so inbrünstiger, aber auf keinem Fundament fußender Stolz gegen die Naturgewalten ernstzunehmende Kräfte mobilisieren, und so bleibt ihm nichts übrig als verzweifelter Trotz. Nur dieser ist es, der ihn anspornt, den Kaiser gegen das Toben eines Sturmes zu verteidigen, ihn neu aufzurichten, sich an ihn zu klammern, sich auf dem Tisch wälzend endgültig als Karikatur seiner selbst zu entlarven.
Der Schatten des BrudersEs ist das Scheitern einer Figur, die alles andere ist als ein Sympathieträger. Wie sehr der Autor damit um Affirmation seitens der Antikriegsstimmen buhlte, präzisierte Klaus Mann in seiner Autobiografie Der Wendepunkt in einer Passage über die Aversionen seines Onkels gegenüber der politischen Rechten:
»Heinrich Mann war ein Gegner, den man ernst zu nehmen hatte. Seine Stimme ließ sich nicht überhören: Ihr eignete die Überzeugungskraft, die aus echter Passion, dem ganzen Einsatz des Gefühls, des Herzens kommt. Die Nazis hatte er, der Autor des ›Untertan‹ durchschaut, dargestellt und abgetan, ehe sie sich noch als ›Bewegung‹ konsolidierten.«
Als Der Untertan nach der Zensur während der Kriegsjahre 1918 endlich veröffentlicht werden durfte, erschien er »innerhalb von sechs Wochen in sieben Auflagen«, wie Peter Paul Schneider im Nachwort zur Fischer-Ausgabe erörterte. Dennoch ließ die Strahlkraft des sich weniger querköpfig in die Politik einklinkenden jüngeren Bruders Heinrich Manns Oeuvre blass ausschauen. Mit dem Untertan stiftete letzterer inmitten eines enorm obrigkeitshörigen Zeitalters zu polarisierenden Debatten an. Sympathien für kommunistische Ideen beförderten zusätzlich die Demontage seiner Reputation. Nach der Flucht vor den Nazis, nach dem Ende der Terrorherrschaft, inmitten der Blockkonfrontation erledigte die Vereinnahmung durch die DDR-Administration den Rest: Bis in die Gegenwart fokussieren sich RezipientInnen lieber auf Thomas Mann. Vermutlich ist es da nur konsequent, wenn die GöttingerInnen den durchweg grandios inszenierten Plot mit lediglich verhaltenem Beifall honorieren. Von den Verbindungsstudenten verweigern die meisten den Applaus sogar gänzlich.
Gegen den ZeitgeistTrotz der geringen Popularität des Autors ist die Publikumsreaktion befremdend, zumal der Ausverkauf aller bisherigen Spieltermine auf ein großes, dem starken Aktualitätsbezug geschuldetes Interesse hinwies. Ob derlei Reaktion jedoch wirklich überrascht, lässt sich anzweifeln ‒ in Zeiten, in denen sogenannte besorgte BürgerInnen im Schlepptau der Neonaziszene durch bundesdeutsche Straßen stapfen und JounalistInnen an Leib und Leben bedrohen, in Zeiten, in denen Schießbefehle auf geflüchtete Menschen erwogen werden, in Zeiten, in denen ‒ wie in Österreich ‒ Diederich Heßling nicht unähnliche Idiosynkrasien ins Präsidentenamt gehievt zu werden drohen, in Zeiten also, in denen DemagogInnen umso mehr Einverständnis einheimsen, je schlichtere Konzepte sie zur Kompensation komplexer Probleme feilbieten, in Zeiten, in denen sich zudem die politischen Lager einen Wettkampf im Überbieten des Appeasements gegenüber der Neuen Rechten leisten. Das Gefühl, es fehle der Konsens zwischen dem Publikum und der Dramaturgin Sonja Bachmann sowie des Regisseurs Theo Fransz, macht ratlos. Letztere hatten mit der Absage an nationalistische Ideologien in einem zuungunsten der Humanität zu kippen drohenden Klima Mut bewiesen. Es bleibt zu hoffen, dass es Theaterschaffende auch künftig nicht scheuen werden, dem Zeitgeist die Stirn zu bieten.
Als ich noch in die Schule ging, verlangte ein Lehrer, nach überflüssigen Wörtern in Brechts Kreidekreis zu suchen. Es gab nur eines. Auch hier gibt es eins: höher hierarchisch. Eins kann man streichen, aber sonst nichts. Es ist mutig, aus einer Aufführungskritik auch eine Publikumskritik zu machen, auch wenn Handke vorgearbeitet hat. Möge der Autor auch weiter mit seiner präzisen Eloquenz die Möglichkeit haben, für ein breites Publikum ‘dem Zeitgeist die Stirn zu bieten’.