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Literaturherbst 2019
Der tschechische Herbst

Ein bisschen Ludvík

Mit Michal Ajvaz und Petra Soukupovà zu Gast knüpfte das Literarische Zentrum an vorherige Veranstaltungen mit Schwerpunkt Tschechien, dem Gastland der Leipziger Buchmesse, an. Lange wird der Abend in Erinnerung bleiben, an dem so viel gelacht und nach Schuppentieren gegoogelt wurde.

Von Stefan Walfort

Stellt euch vor, ihr hört jemanden um Hilfe schreien und werdet, sobald ihr nachseht, Zeug*innen eines Kampfes zwischen einer jungen Frau und einem Komodowaran. Was schätzt ihr, wer da am ehesten Opfer und wer Täter ist? Und was tut ihr, wenn sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit herausstellt: »um Hilfe ruft nicht die Frau, sondern der Waran«? Über die Praktikabilität von Kants kategorischen Imperativ spekulieren? Der Angreiferin in die

Buch


Michal Ajvaz
Die Rückkehr des alten Waran
Übersetzt von Veronika Siska, mit einem Nachwort von Michael Stavarič
Wieser Verlag:
Klagenfurt 2018
154 Seiten, 17,90€

 
 
Parade fahren? Ihr womöglich, um das arme Tier zu befreien, eins auf die Mütze geben? Solch ein Dilemma und ähnlich crazy Situationen konstruiert Michal Ajvaz, der an der Prager Karls-Universität Tschechisch und Ästhetik studierte und vorher als Hausmeister, Nachtwächter und Pumpenwart sein Brot verdiente, in seiner 2012 auf Tschechisch und 2018 auf Deutsch erschienenen Kurzprosa-Sammlung Die Rückkehr des alten Waran. Darin funktionieren 23 Kapitel als unabhängige Geschichten, bieten miteinander verknüpft aber auch die Lektüre als Roman an.

Ob wohl Leo Perutz᾽ Nachts unter der steinernen Brücke inspirierend gewirkt hat? Dessen 1951 nach 27 Jahren des Tüftelns abgeschlossenes Mammutprojekt ist ähnlich konstruiert, wenngleich sich die lange Arbeitszeit und der größere Aufwand in sehr viel feiner ziselierten Erzählfinessen niedergeschlagen haben. Seiner Mischung aus Realismus und Fantastik, die einen vom Flair her sofort an Prager deutsche Literatur und an tschechisch schreibende Verwandte erinnert, begegnet man auch bei Ajvaz. Nachdem er während der Samtenen Revolution zunächst »eine Sammlung von untraditionellen Gedichten« publizierte und danach – »alle noch vor der Wende veröffentlichte« – Geschichten verfasst habe, schreibe er inzwischen ausschließlich Romane. Das verriet er, nachdem ihn der Tschechisch-Lektor an der Göttinger Universität, Lubomir Sůva, der den Abend moderierte und die Gespräche ins Deutsche übersetzte, bat, Die Rückkehr des alten Waran ins Gesamtwerk einzuordnen.

Eine klavieraffine Ratte und eine Muschel auf Verfolgungsjagd

Was Einflüsse und Vorbilder betrifft, gab sich Ajvaz bedeckt. Auf die Frage aus dem Publikum, ob die Geschichte mit dem Waran, aus der Ajvaz zuvor einen kurzen Auszug auf Tschechisch gelesen hatte (nach ihm trug die Göttinger DT-Schauspielerin Andrea Strube sie in Gänze auf Deutsch vor), von Karel Čapek beeinflusst sei, antwortete er:

Ich werde öfter nach Einflüssen von Čapek gefragt. Ich vermute dann immer, dass die Leute sonst nichts Tschechisches kennen. Ich mag Čapek zwar, glaube aber nicht, dass er mich beeinflusst hat.

Das Programm des Literaturherbsts präsentierte Ajvaz auch als »Erbe des tschechischen Surrealismus und der kafkaesken Groteske«. Wird mit dem Attribut kafkaesk nicht selten inflationär herumgeworfen, fängt es hier präzise ein, wie Ajvaz sich von Absurdem geprägte (Alb-)Traumwelten ausdenkt. Die zweite Geschichte, die er dem Publikum präsentierte, wiederum gefolgt von Strubes mitreißendem Vortrag der deutschen Übersetzung, trägt den Titel Das Konzert, und schon der Einstieg, erst recht das Ende, lässt durchaus an Kafka denken:

Auf der Gartenbühne der Sala Terrana spiele ich Klavier: ich weiß, dass von meiner Leistung meine ganze künftige Karriere abhängt, entweder setze ich mich als Klaviervirtuose durch und werde auf Welttourneen durch Metropolen gehen oder ich kehre wieder in mein Erdloch im Feldrain zurück. Zu Beginn bin ich konzentriert und ruhig, ein wenig stört mich nur, dass die Tasten seltsam kleben, so als wären sie mit Honig begossen worden, oder eher noch, als wären sie aus Wachs, und ihre Oberfläche würde vor Wärme schmelzen.

Später schildert der Erzähler, wie er die »Hände zum Schlussakkord [hebt], von denen in wehenden Nudeln der Tastenteig hängt«, bevor er sich gemeinsam mit dem Klavier in Gänze zu »Sumpf« auflöst, doch bis dahin lässt er sich wenig von alledem beirren: »Schließlich habe ich bei Konzerten schon manches erlebt: ich erinnere mich, wie mir beim Spielen in einem Club eine Ratte über die Tasten lief, ihre Beinchen schlugen falsche Akkorde an […], und jedes Mal, wenn sie eine Hand eingeholt hatte, biss sie hinein. Dennoch spielte ich damals das Stück zu Ende – mit einer abgebissenen

Reihe


Vom 18.-28. Oktober fand der 28. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog ab jetzt bis 15. November jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.

 
 
Kleinfingerkuppe, auf blutverschmierten Tasten.« Und obwohl viel bei Ajvaz lustig klingt, das Publikum alles andere als grundlos beinahe Tränen lachte, eine Zuschauerin das Ganze schlicht laut als »toll!« kommentierte, überwiegt beim stillen Lesen, alleine für sich, ein beklemmendes Gefühl. Auf jeder Seite lauert die Gefahr für den Erzähler, durch seltsame Umstände Qualen erleiden zu müssen – und immer wieder leitmotivisch durch Tiere.

Ausgespart wurden an dem unvergesslichen Abend diejenigen (zu den besten gehörenden) Geschichten aus Die Rückkehr des alten Waran, in denen der Erzähler sich von einer gigantischen Muschel verfolgt fühlt oder vor einer mit Wasser gefüllten Telefonzelle darauf wartet, dass »ein Seepferdchen, so groß wie ein erwachsener Mensch«, sein Gespräch beendet, sofern es überhaupt telefoniert. Sicher ist das nicht; der Erzähler steigert sich in Spekulationen hinein, und insgesamt geben sich hier gar recht deutlich Anleihen an die Türhüter-Legende aus dem berühmten 9. Kapitel des Kafka-Romans Der Prozess zu erkennen.


Michal Ajvaz, Lubomir Sůva, Petra Soukupovà (v.l.n.r. verwendet unter Genehmigung des Literarischen Zentrums)
Früher war alles besser?

Tiere spielen in Petra Soukupovás Erzählband Montagmorgen eine eher untergeordnete Rolle. Nur in der dritten von insgesamt dreien, der titelgebenden Erzählung, sorgt der Weihnachtswunsch eines Kindes nach einem echten Kaninchen neben vielen anderen Ärgernissen für Frustration des Vaters. Weit wichtiger seien laut Soukupová Tiere in ihren anderen Büchern, darunter zwei Kinderbücher: Dort gebe es »ein Fantasietier, das im Wald lebt, einen Hund, Vögel und Insekten«. Sie selbst möge Tiere sehr. Statt Schoßhündchen, Meerschweinchen oder Kanarienvogel nannte sie jedoch eher außergewöhnliche Arten wie den Tapir, Ameisenbären oder auch, sehr zur Erheiterung des Publikums, Warane als ihre Favoriten. Darüber hinaus erklärte Sůva, dass ihm für ein besonderes Tier, das Soukupová mit genannt hatte, keine adäquate deutsche Übersetzung einfalle. Als er es zu beschreiben begann, brach unter den Zuschauer*innen und auf der Bühne das große Rätselraten aus: Gürteltier? Faultier? Eifrig googelte und mutmaßte man, bis aus Strube die Lösung herausplatzte: »ein Schuppentier!«

In der Erzählung mit dem Titel Straßenbahn, die zunächst Soukupová und dann Strube im altbewährten sprachlichen Wechsel präsentierte, geht es allerdings um etwas vollkommen anderes. Tiere kommen dort überhaupt nicht vor – zumindest wenn man es sich verkneift, die Hauptfigur als komischen Kauz zu beschreiben. Es handelt sich um Ludvík, einen alten Mann mit Früher-war-alles-besser-Attitüde. Einst war er Straßenbahnfahrer. Mit trotziger Leidenschaft blickt er auf all die Jahre zurück, in denen noch nicht wie gegenwärtig »lauter Enten oder widerliche Škodas« seinen Argwohn erregten:

das sind unpraktische und hässliche Straßenbahnwagen, noch dazu mit Porsche-Design, pfui. Sehr bald wird es in Prag wirklich nichts mehr von früher geben.

Bevor er, zum Glück, wie er meint, »in ein paar Jahren ohnehin nicht mehr hier sein« wird, wünscht er sich nichts sehnlicher als den kleinen Šimon, den Sohn des neuen Lebensgefährten von Ludvíks Tochter, eine Art Enkelersatz für ihn, in die Details der Straßenbahnfahrerei einzuweihen. Aus seiner Sicht ist das Interesse des Kindes überraschend groß. Ludvík malt sich schon aus, wie er Šimon zu einem ehemaligen Kollegen »in die Fahrerkabine mitnehmen könnte«. Als Geschenk besorgt der Alte dem Jungen »ein schönes Modell der Tatra 1«. Doch dann macht der Zufall Ludvík einen Strich durch die Rechnung.

Sind wir nicht alle ein bisschen Ludvík?

Straßenbahn sind elf Seiten dicht gedrängten Facettenreichtums von Einsamkeit und Melancholie. Auf die Frage aus dem Publikum, woraus Soukupová das Material für ihre Prosa schöpfe, sagte sie:

von nirgends. Ich habe kaum Kontakt zu alten Menschen. Meine Großeltern sind schon gestorben. Ich denke mir selber aus, wie die Einsamkeit sein muss. Aus eigener Vorstellungskraft.

Eine weitere Stimme aus den Reihen der Zuschauer*innen gab an, Soukupovás Romanen mehr abgewinnen zu können als Erzählungen wie Straßenbahn. Soukupová selbst stimmte dem zu und stellte damit unnötig ihr

Buch


Petra Soukupovà
Montagmorgen
Übersetzt von Johanna Posset, mit einem Nachwort von Judith Hermann
Wieser Verlag:
Klagenfurt 2018
78 Seiten, 17,90€

 
 
Licht unter den Scheffel. Denn die Autorin und Dramaturgin machte schon durch eine Vielzahl an Werken aus unterschiedlichsten Gattungen auf sich aufmerksam, darunter Kinderbücher, Novellen und Drehbücher. Und selbst Judith Hermann, eine der grandiosesten Autorinnen von Kurzprosa, lobt den Band Montagmorgen im Nachwort völlig zutreffend als »glänzend« und hebt zu Recht am Beispiel von Straßenbahn hervor: Soukupová »schenkt ihren Figuren nichts und sie schenkt dem Leser nichts – es gibt keine Poesie, die über die Trauer der Figuren hinwegtäuschen könnte, keine Metaphern, keine psychoanalytische Deutung und keinen Trost. Oder anders – der Trost […] besteht auf eine paradoxe und deshalb wunderbare Weise darin, dass die Figuren, bei aller Trostlosigkeit, doch noch immer eine große Sehnsucht haben«. Das bedeutet, bei allem Starrsinn, den Ludvík an den Tag legt, zeigt er sich zugleich von seiner verletzlichsten Seite.
An einer Stelle, fast am Ende, wird besonders offensichtlich, wie er sich selbst gründlich in die Tasche lügt. In diesem Moment wird uns als Leser*innen klar: wenn uns das Leben mit Anlauf ins Gesicht tritt, sind wir doch alle ein bisschen Ludvík. Uns bleibt gar nichts anderes übrig.

Insgesamt war es ein wunderschöner Abend, der nach der diesjährigen Leipziger Buchmesse noch einmal daran erinnerte, welche Schätze das Gastland Tschechien zum Ausbuddeln und Neuerwerb bereithält. Auch bei Die Rückkehr des alten Waran und Montagmorgen darf man getrost sofort zugreifen.



Metaebene
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 Veröffentlicht am 5. November 2019
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