Jan Wagner gehört zu den meistgelesenen Lyrikern der Gegenwart. Grund dafür ist nicht zuletzt seine Wandlungsfähigkeit: eine kurze Betrachtung seiner neuesten beiden Bände Australien und Die Eulenhasser in den Hallenhäusern.
Von Christian Dinger
Australien heißt der Band, aber die Gedichte führen noch ganz woanders hin. Die Kapitel sind nach den vier Himmelsrichtungen benannt, erst als fünftes kommt Australien. Mit Jan Wagner reisen wir nach Italien und Zypern im Süden, nach Ohio, Idaho und zum Lake Michigan im Westen, nach China im Osten und nach Hiddensee im Norden, bis wir schließlich nach Australien gelangen. Auf dem Weg dorthin begegnen uns Tiere: ein Chamäleon, ein Tukan, ein Murmeltier, ein Eichhörnchen, ein Pitbull, eine Qualle… Aufmerksam und mitfühlend werden diese Tiere beobachtet – wie der Panther im Jardin des Plantes bei Rilke.
Jan Wagner ist ein Meister der Verkleidung. Seine Gedichte kleidet er in die verschiedensten Formen, den Jambus und die Sonettform beherrscht er dabei ebenso wie freie Formen, seine Verse gehen vom Elegischen ins Prosaische. Es ist, als befänden sich die Wagnerschen Gedichte in einem Schwebezustand zwischen Tradition und Avantgarde.
Da ist zum einen Anton Brant, ein Bauer aus dem Holsteinischen, dessen Gedichte einen landwirtschaftlichen und regionalen Einschlag haben. Oder Theodor Vischhaupt, der sich zeitlebens mit der Kunst des Anagrammgedichts beschäftigte. Und da ist der geheimnisvolle Philip Miller, der seine Elegien an einen antiken Torso in Rom heftete.
Nicht nur die Dichter hat Jan Wagner erfunden, er erfand ihnen auch eine Biografie und zusätzlich eine – mal mehr, mal weniger umfangreiche – Forschungsliteratur. Die einzelnen Gedichte sind mit Fußnoten versehen, die den interessierten Leser mit wissenswerten Hintergrundinformationen, Hinweisen zur Entstehungsgeschichte oder Deutungsansätzen von Germanisten oder Biografen versorgen.
Das alles ist weit mehr als eine unterhaltsame Spielerei. Durch die drei höchst unterschiedlichen Identitäten, in die sich Jan Wagner kleidet, hat er es diesen wunderbaren Gedichten erst ermöglicht, ihren Weg zur Leserschaft zu finden. Wie hätten das Publikum und die Feuilletons wohl darauf reagiert, wenn Jan Wagner Gedichte in elegischen Distichen veröffentlicht hätte (Anachronismus!) oder Gedichte im Stil eines holsteinischen Bauerndichters (Wo bleibt denn da die Authentizität?!). Jan Wagner hat sehr wohl verstanden, dass man sich als Autor zu seinen Texten dazu erfinden muss. Und er hat das Potential erkannt, das für ihn daraus erwächst, dass er sich gleich mehrfach erfinden kann.
[…] Christian Dinger: Der Verkleidungskünstler litlog.de, 29.5.2013 […]