Wenn der Poetikdozent Maxim Biller und das Thema »Literatur und Politik« heißt, geht es mindestens um Revolution. Das bewies der Autor bereits beim Auftakt der diesjährigen Heidelberger Poetikvorlesung. Er erzählte, was gute Literatur leisten muss und warum er gerne so wäre wie Philip Roth.
Von Lena Karger
Wenn Maxim Biller eine traditionsreiche deutsche Universität besucht, hängt Anspannung in der Luft. Schließlich ist das Polemisieren gegen traditionsreiche deutsche Institutionen sein Steckenpferd, egal ob es sich um eine Zeit-Herausgeberin1 oder den wöchentlichen Tatort2 handelt. Die Konstellation birgt also Konfliktpotenzial. Dementsprechend dicht sind die Stuhlreihen während der Heidelberger Poetikvorlesung besetzt. Eigentlich bietet sich den Zuschauenden ein idyllisches Bild: In den Fenstern der Aula sitzt Abendsonne und vorne sitzt ein kluger Mann mit Brille, der aus seinem Leben erzählt. Selbst die Wände duften angenehm nach warmem Holz. Doch natürlich will Billers Geschichte nichts von Idylle wissen, sie interessiert sich für Revolution.
Seine VorgängerInnen der letzten Jahre, Frank Witzel und Felicitas Hoppe hielten ihre Vorträge am Rednerpult der Aula. Biller macht es anders. Er sitzt an einem Tisch davor, dankt zunächst seinen LaudatorInnen und begrüßt das Publikum mit den Worten: »Es wird lang.« Dann liest er.
Alles begann in den achtziger Jahren, der junge Biller reist zum Kongress »Can Germany be a place for Jewish authors today?« in die USA. Hier war er ein jüdisch-deutscher Autor unter vielen und träumte von einer jüdischen Gruppe 47. Er sehnte sich nach Zugehörigkeit und nach Menschen, die mit ihm über Literatur diskutierten, ohne ihm seinen Widerspruchsgeist übelzunehmen. Natürlich wurde daraus nichts, denn Kollektive sind nichts für Biller: Wohin dann mit der Rolle des kämpfenden Außenseiters, die seine öffentlichen Auftritte so oft begleitet?
Was Literatur leisten mussDiesem vergleichsweise sanften Einstieg in die (Vor)Lesung folgen die holprigen Höhepunkte seiner Karriere. Er erzählt vom Bachmannpreis, als er anstelle der eingereichten Texte seine Juroren-KollegInnen attackierte, bis diese nur noch die Augen rollten. Sein Frühstück in der Cafeteria aß er fortan alleine. Er tat es, liest Biller, um nicht die Rolle des jüdischen »zersetzenden« Kritikers zu spielen, in der ihn die OrganisatorInnen so gerne gesehen hätten. Auch die Literatur-Tagung in Tutzing, die Biller eigens organisierte, und sein Vorwurf der »Schlappschwanzliteratur«, den er seinen Gästen entgegenschleuderte, hätten genau so geschehen müssen, wie sie es taten. 2000 hatte er SchriftstellerInnen, LiteraturkritikerInnen und VerlegerInnen eingeladen, um über deutsche Gegenwartsliteratur zu sprechen. Die Besprechung endete in Beschimpfungen. Er warf ihr »öde, kompromisslerische, inzestuöse Homogenität« vor und den deutschen »Geistesarbeitern«, nicht besser zu sein, als »Fabrikarbeiter«.3 Die Drastik war nötig, sagt Biller, sonst wäre er so feige gewesen wie die Gäste, die er an jenem Abend beleidigt hatte. So weit, so billerhaft die Argumente.
Nur fühlen sie sich nicht an wie Argumente, dafür schreibt Biller zu poetisch. Überhaupt klingt »Argument« zu sachlich, zu trocken, zu deutsch für seine Sprache. Wenn er liest, erzählt er eine Geschichte. Auch die widerwilligsten ZuhörerInnen bläst Biller sanft in sein Geschichtenmeer hinaus, bis sie von Melodie und Rhythmus so eingelullt sind, dass sie nicht sehen, von wo die Welle kommt. Heinrich Böll sei zwar »toll, aber dumm« gewesen, Ernst Jünger »faschistisch« und Thomas Mann »mindestens reaktionär«. Plötzlich ist Biller wieder der polemische Biller; der Blick scharf, das Urteil kompromisslos. Und trotzdem ist es anders als sonst. Die Anklage wirkt nicht aggressiv, sondern als hoffe sie leise auf Verständnis. Im Saal herrscht Ruhe. Die deutschen Studierenden, GermanistInnen und RentnerInnen lauschen, wie der Dozent erzählt, warum es mit ihm und ihnen nicht klappt und warum das ihre Schuld ist. Heidelberg ist Tutzing in sanfteren Tönen.
Worum es Biller an diesem Abend eigentlich geht, ist nicht schnell gesagt, da er sich mit den kleinen Kategorien nicht abgibt. Er spricht über Großes, über Mut, Moral, Wahrheit und Widersprüche. Es geht um Deutsche und Juden, um Schuldkomplexe, überspielte Aggressionen und den Traum einer »anti-antisemitischen Welt«. Im Kern spricht er, im Sinne der Poetikvorlesung, von Literatur und wie sie sein sollte: Ehrliche Literatur, die unangenehme Fragen nicht nur anderen, sondern vor allen Dingen sich selbst stellt. Literatur, die keine Antworten auf kluge Fragen, sondern klügere Gegenfragen finden will. Wahrheitssuche als Perpetuum Mobile. Diese Art von Roman würde in Deutschland nicht geschrieben, sagt Biller, dabei fehle gerade solcher dem deutsch-jüdischen Verhältnis zur Versöhnung. Es fehle eine literarische Revolution des Mutes: Ein Roman eines Deutschen über Nazi-Deutschland, der die Wahrheit seiner Eltern und Großeltern nicht als gottgegebene, einzig mögliche Wahrheit akzeptiert. Deutsche SchriftstellerInnen glaubten dort, wo Biller Aufklärung verlangt.
Keine Revolution ohne gesundes SelbstbewusstseinGott, Glaube und »die ultimative Weltwahrheit«; das sind die Größenordnungen, in denen Biller wörtlich und bildlich spricht, wenn er gute Literatur definiert. Seine Kategorien zeigen zweierlei: Erstens latenten Größenwahn, denn man muss nicht lange nachdenken, um zu ahnen, wer Voltaire in seiner Aufklärungsgleichung sein soll. Zweitens, und wichtiger, eine gleichsam idealistische wie radikale Liebe zur Literatur. Sie ist es, die ihn zwingt zu streiten und die ihn gleichzeitig hoffen lässt, deutsche LeserInnen könnten sich eines Tages auch dann mit jüdischen SchriftstellerInnen wohlfühlen, wenn diese ein bisschen näher wohnten als in den USA. Billers letzter Satz:
Erst wenn mir gelingt, was Roth schon geschafft hat, wenn mein jüdischer Widerspruchsgeist ein Lächeln in die Herzen meiner deutschen Leser bringt und nicht Wut und Panik, dann werde ich so gut sein, wie ich es schon immer sein wollte.
Für diesen Abend war er es. Das Publikum badet ihn in Applaus, und wäre es nicht Biller, sähe sein Lächeln fast verlegen aus. In diesem Moment hat er sie auf seiner Seite, die Deutschen im Saal, und zumindest für den Augenblick gönnen sie ihm die Revolution. Denn die Heidelberger Version von Biller ist zugewandter als die aus Tutzing und egal, welcher man glauben möchte, eine von ihnen braucht der deutsche Literaturbetrieb. Besser mehrere.