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Grimm, Grass, Göttingen

Weltpremiere in Göttingen: Erstmals stellt Günter Grass sein neues Werk Grimms Wörter dem Publikum vor. Über ein Buch zwischen Sprachspiellust und politischem Engagement, über eine Lesung zwischen Verzauberung und Melancholie – und über den Autor als gealterten Intellektuellen.

Von Christoph Heymel

Die Premiere seines, wie er sagt, »wohl letzten« Buches in Göttingen zu feiern, war nur konsequent von Günter Grass: Hier protestierten die Brüder Grimm im Jahr 1837 gemeinsam mit fünf anderen Professoren als »Göttinger Sieben« gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreiches Hannover und wurden des Landes verwiesen. Immer wieder kommt Grimms Wörter, so der Titel des vom Steidl Verlag in einer wunderschönen Ausgabe publizierten Werks, zurück auf dieses Ereignis, in dem sich wie in einem Brennglas zeigt, dass Jacob und Wilhelm Grimm auch politisch dachten und lebten. Als politischer Intellektueller versteht sich auch Günter Grass, und so lag es nahe, das dritte und abschließende seiner autobiographischen Bücher, das den öffentlichen und etablierten Schriftsteller Grass betrachtet, als spiegelbildliche Doppelbiographie anzulegen: die Grimms auf der einen, der Grass auf der anderen Seite. Das mag eitel sein, aber es gelingt.

Als Günter Grass in Göttingen zu lesen beginnt, lauschen die 800 Zuhörer im ausverkauften ZHG 011, dem größten Hörsaal der Universität, gebannt. Seine Stimme ist vollkommen klar, und wenn er seine Alliterationen und Lautmalereien, mit denen er die Grimm‘schen Wörterbucheinträge umschreibt, zum Leben erweckt, wirkt er nicht wie ein 83-jähriger. Beeindruckende Sätze klingen durch den Saal und man beginnt zu verstehen, warum Grass dieses Buch auch Eine Liebeserklärung genannt hat. Später im Gespräch mit Heinrich Detering wird er sagen, dass das laute Lesen wichtig für jeden Text sei: Er selbst spreche beim Schreiben. Das laute Lesen oder Vorlesen sei die beste Art um Geschriebenes zu verstehen.

Wörterbücher, Abschusslisten, Stasi-Akten

Grimms Wörter ist auch die Geschichte des Grimm‘schen Wörterbuches, das mit seiner 123-jährigen Entstehungszeit zu den wichtigsten Zeugnissen der letzten beiden Jahrhunderte gehört. Vor allem aber ist es, wie naheliegend, auch eine Biographie der Brüder Grimm, die mit deren Geburt ihren Anfang nimmt, aber noch über Jacobs Tod hinausgeht und anekdotenhaft schildert, wie es den Brüdern in Göttingen, Kassel und Berlin erging, wie das Vorhaben des Deutschen Wörterbuches begann und wie es akribisch vorangetrieben wurde. Die Kapitel sind zuerst nach den Buchstaben A, B, C, D, E und F geordnet, den Abteilungen, die die Grimms noch selbst bearbeiteten. Hinzu kommen noch das K wie Krieg, U wie Unkenrufe und Z wie Ziel.

Buch-Info


Günter Grass
Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung.
Göttingen: Steidl 2010
357 Seiten, 29,80 €

 
 
Von liebevollen Wortspielen und Gedichten aus kommt Grass dabei immer wieder auf das eigene Leben zu sprechen: Nach Beim Häuten der Zwiebel (2006) und Die Box (2008) ist es in diesem dritten Teil der Autobiographie vor allem der politische Schriftsteller, der noch einmal ins Licht gerückt wird. Günter Grass rekapituliert seine offenen Briefe an Anna Seghers und Kurt Georg Kiesinger, kritisiert einmal mehr Adenauers Rufmord an Willy Brandt und erzählt, wie ihn dies zum Wahlkämpfer machte, erinnert sich an seine Warnung vor »Abschusslisten«, die ihn selbst zur Zielscheibe von Linksaktivisten machte, weist auf politische Fehler beim Aufbau Ost hin, stellt sich als Entwicklungshilfe-Pionier dar, kritisiert wiederholt Springerpresse und Polizeigewalt und zitiert die eigene Stasi-Akte. Er ist ein Rechthaber, und wenn er manchen zu sehr mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt, dann sei ihm dies verziehen: noch einmal will hier einer all das sagen, was ihm wichtig ist und unrecht erscheint.

Dabei findet er stets einen heiteren Ton, der das Leben der Grimms und sein eigenes tatsächlich exzellent zusammenfügt. Die Bewunderung für die Leistungen der Brüder kommt ohnehin nicht zu kurz; immer wieder denkt der Erzähler Grass sehnsüchtig an eine nicht mögliche Begegnung mit Jacob Grimm:

Wie reizt es mich jetzt, ihm einen Füllfederhalter, jadoch, einen Montblanc mit Goldfeder zum Geschenk zu machen, ihn listig zu überreden, zumindest auf winzigem Zettel die Erprobung der gefüllten Feder zu erwägen.

Seine eigenen Texte schreibt Günter Grass zuerst mit der Hand, eine zweite Fassung folgt mit Hilfe einer alten Olivetti. Computer seien ihm zu schnell, sagt er im Gespräch, das Schriftbild zu sauber. Etwas Unfertiges sehe bereits fertig aus, das störe ihn.

»Ach Oskar …«

An diesem Abend liest Grass drei Passagen und beginnt, wo auch das Buch anfängt. Jacob und Wilhelm wachsen heran, wirken in Göttingen und werden verbannt, das A bestimmt die Seiten: »Ach, alter Adam! Ab Anbeginn setzten dir Angstläuse zu, / plagte dich Aftersausen, war zu ahnen, / es könnte etwas, das ähnlich der Schlange / sich aalt, länglich aalglatt ist…« So dichtet sich Grass durch die Stichworte des Wörterbuches. Was hier noch kunstvoll und kurzweilig klingt, büßt im Laufe der 358 Seiten leider etwas an Reiz ein. So wie die Grimm-Stücke sich immer häufiger mit den Grass-Anekdoten abwechseln und später mehr und mehr in den Hintergrund treten, verliert das Spielen mit den Worten an Bedeutung und wirkt stellenweise langatmig. Im zweiten vorgelesenen Teil gelingt dies aber noch gut: Wenn im D-Kapitel »Däumeling und Daumesdick« das akribische Märchensammeln der Brüder ummalen und Grass sich dichtenderweise an seinen Oskar Matzerath erinnert, ja diesen gar beneidet und seufzt »Ach Oskar, wäre ich doch wie du / ein Däumling geblieben«, dann zeigt sich, wie die Sprünge von Grimm zu jenem Grass gelingen, der mit den Worten Deterings selbst der »dickste Märchenerzähler« sei.

»Ich bin leergeschrieben«

Zuletzt liest er aus den abschließenden, nachdenklicher klingenden Abschnitten des Buches. Während Jacob Grimm eine Rede über das Altern hält, reflektiert Grass über die eigene Vergänglichkeit. Nach dem Tod beider Brüder dauert es noch ziemlich lange, bis auch das Buch endet, doch auf diesen letzten achtzig Seiten gibt es noch viel zu sagen. Wenn Grass einmal wieder die Brücke schlägt und das zwanzigste Jahrhundert auf einer halben Seite zusammenfasst, stellt er sein ganzes Können unter Beweis. Auf die Frage, ob Grimms Wörter auch ein Buch über die Schönheit des Alters sei, erwidert er: »Jedes neue Frühjahr ist wie ein Geschenk.« Er gefällt sich in der Rolle des gealterten Intellektuellen, von Betriebsmüdigkeit keine Spur, bis zum Schluss wolle er sich noch neuen Projekten widmen, als nächstes mit Radierungen zu den Hundejahren: So könne er dem jungen Autor Grass begegnen, der diesen Roman vor fünfzig Jahren verfasst hat. Nur Schreiben möchte er (vorerst) nicht mehr. »Ich bin leergeschrieben« bekennt er, und das weder zufrieden noch resigniert, sondern mit bloßem Respekt vor dem eigenen Lebenswerk.

In den nächsten Wochen wird er noch in vielen Städten lesen und Pfeife rauchend seine Bücher signieren, was ihn mit Genugtuung erfüllen wird. Dies sei ihm vergönnt, denn er hat ein wunderbares Buch geschrieben, das Autobiographie, Dichtung und Kulturgeschichte in einem ist; eine Verneigung vor den Grimms und einmal mehr politischer Appell. Damit mag er manchen so starsinnig wie Jacob Grimm vorkommen, doch stellt er letztlich vor allem ein weiteres Mal unter Beweis, dass es ihm ernst ist. Wir verneigen uns unsererseits vor Günter Grass, der eitel sein darf, weil er solche Bücher schreibt.



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 Veröffentlicht am 12. September 2010
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