Schon lange sind die Protagonisten in Comics nicht nur mehr Superhelden. Den altbekannten Marvelhelden steht nun ein Charakter entgegen, der sich unscheinbar seinen Weg in Richtung Erwachsensein bahnt. Die Welten des Berliner Comic-Künstlers Mawil drehen sich mit Vorliebe um liebenswerte Unglücksvögel, die die Sonnenseite des Lebens allzu häufig aus deren Schatten betrachten. In seinem neuen Werk »Kinderland« dreht sich alles um Freundschaft und die Suche nach Beständigkeit in einer Zeit der Umbrüche.
Von Christoph Bendfeldt
Ost-Berlin erwacht. Wie eine riesige Morgenlatte streckt sich der Fernsehturm in den noch frühen Morgen. Auch bei Mirko »the Muttersöhnchen« Watzke aus der Klasse 7a regt sich etwas, das er zuvor nicht wahrgenommen hat. Es sind die letzten Wochen vor dem Mauerfall. Doch Mirko hat andere Sorgen, als sich um ein marodes System zu kümmern, das scheinbar nie mehr als ein großes Experiment war. Denn für den kleingeratenen Jungpionier mit großer Brille beginnen die Verwirrungen der Jugend, die immer neue Anstrengungen bedeuten, aus dem Durcheinander in seinem Leben ein begreifbares Ganzes zu formen. Der Kontakt zu Mädchen, Streit mit den Eltern, Lehrern und den älteren Mitschülern bringen ihn neuerdings in Situationen, in denen er sich behaupten muss und die seinen Ruf als Musterschüler ins Wanken bringen. Das hängt nicht zuletzt mit dem Neuen zusammen, der scheinbar nirgends dazugehört und der Ärger geradezu anzieht. Es bahnt sich eine Freundschaft zwischen zwei Jungen an, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So lernen Mirko und Torsten bald den Wert von Gemeinschaft kennen. Sie suchen den Sinn dieses Wortes, der verloren ging, als der Staat es programmatisch aushöhlte. Sie üben Solidarität, die für sie nicht einmal einen Namen braucht, sondern authentisch gelebt wird. Schon bald ist ein Indianerehrenwort der höchste Codex und die Blutsbrüderschaft ein Zeichen wahrer Brüderlichkeit. Dass eine Verbindung dieser Art mehr als ein einmaliges Blutvergießen fordert, zeigt schon bald der Zusammenprall mit der Realität.
Mehr als ein Blick zurückErneut widmet sich der Ostberliner Künstler Mawil mit Kinderland den Schwachen und Unterlegenen. Sein neuer Comic wurde bereits als bester deutschsprachiger Comic des Jahres 2014 ausgezeichnet. Nach internationalen Erfolgen mit Wir können ja Freunden bleiben und dem 2007 erschienenen Band Action Sorgenkind untermauert Mawil seinen Stand als Größe der deutschen Comic-Szene. Mit viel Witz und Sympathie für seine Charaktere erzählt er eine Geschichte rund ums Erwachsenwerden in einem untergehenden Staat. Dabei ist es bemerkenswert, dass er ohne nostalgischen Kitsch auskommt, der den Blick auf die DDR häufig begleitet, wenn sie nicht als Verbrecherstaat freud- und farblos dargestellt wird. In bunten und vergnüglich verspielten Bildern werden in Kinderland die alltäglichen Abenteuer der Jugend dargestellt. Der Betrachter wird in eine Zeit zurückgeführt, deren Eindrücke längst verblasst und dem gewohnheitsmäßigen Blick des Erwachsenen gewichen sind. Entgegen anderer Coming-of-Age Comics erscheint der Plot hier allerdings relativ harmlos. Wurde beispielsweise in der Comic-Serie Black Hole von Charles Burns mit surrealen Bildern gearbeitet, die gemeinsam mit der Thematik um eine mysteriöse Geschlechtskrankheit einen dunklen Ton annimmt, kommt Kinderland weniger bedrohlich daher. Der ungraziöse Zeichenstil unterstreicht die von heiterem Witz getragene Geschichte, die dadurch aber auch an Faszination einbüßt.
Während über ihren Köpfen die Kämpfe zwischen politischen Systemen toben, werden auf dem Schulhof die großen Entscheidungen auf der Tischtennis-Platte ausgetragen. Schon bald ist der Sport nicht nur ein Zeitvertrieb, sondern Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Das rasante Hin und Her im Einzel oder Doppel, die Frage nach Schnelligkeit, Stärke und der unbezwingbaren Angabe des Todes: Sie entscheiden über Respekt und Ansehen unter den Mitschülern. Jedoch werden die Regeln des Fair Play auch hier nicht immer eingehalten und so dauert es nicht lange, bis Worte und Wettkämpfe durch das Sprechen der Fäuste ersetzt werden.
Ohne den Einfluss der Erwachsenen bilden die Heranwachsenden eigene Werte: Sei keine Petze, sondern stark und mutig. Halte deine Versprechen und stehe zu deinen Freunden. Sei gerecht und achte auf die Schwachen.
Dass die Regeln von Kinderland anders aussehen als die der Erwachsenen-Welt, liegt in der Natur der Sache. Es ist Kinderland zu verdanken, dass durch die Ursprünglichkeit des kindlichen Zusammenlebens die konstruierte Realität der Erwachsenen als Farce entlarvt wird. Erwachsenwerden, so scheint die traurige Einsicht, bedeutet Kinderland zu verlassen um die Werte einer Realität zu akzeptieren, die sich von den eigenen Erfahrungen stark zu unterscheiden scheinen. Mit der Grenze öffnet sich auch der Zugang zu einem neuen Territorium, das noch ein weißer Fleck auf der Landkarte ist. Was zurückgelassen werden muss und was mitgenommen werden kann, ist in der Zeit des Aufbruchs noch nicht deutlich. Doch auch wenn sich Wege ungewollt trennen, bleiben die Eindrücke von echter Freundschaft ein immerwährender Schatz.
So bildet Kinderland letztendlich den Rahmen für ein farbenfrohes Erwachen inmitten des reglementierenden Sozialismus, der in seiner Einheitlichkeit nicht nur in den Hintergrund rückt, sondern durch die jugendlichen Abenteuer Raum bietet für Einzigartigkeit und Authentizität. Der abgebildete Erlebnishorizont umfasst indessen den unaufregenden Teil des Erwachsenwerdens. Ohne dass es den Kindern bewusst ist oder sie sich danach sehnen, beginnt der aufregende Teil erst mit dem Fall der Mauer und dem Austritt aus der Kindheit.