In Zeiten der Krise scheint Bertolt Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe ein Stück der Stunde zu sein. Am Jungen Theater Göttingen hatte nun eine Johanna-Inszenierung von Frank Abt Premiere. Sie verzichtet auf platte Aktualisierung und stellt stattdessen das dramatische Kunstwerk ins Zentrum. Am Ende sitzt der Zuschauer dennoch in der Ideologiefalle.
Von Peer Trilcke
Berlin, Dresden, Konstanz – allerorten gibt man dieser Tage des ›armen‹ Bertolt Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe, jenes sperrige Stück über kapitalistische Skrupellosigkeit und kommunistische Revolte, über religiöse Scheinheiligkeit und die Dekadenz des Sozialen während einer Börsen- und Überproduktionskrise auf dem Chicagoer Fleischmarkt um 1900. In den Städtereigen reiht sich nun auch Göttingen ein, dessen Junges Theater (JT) die Heilige Johanna der Regie von Frank Abt anvertraut hat.
Das passt, dachte – und fürchtete man im Vorfeld: Auf der einen Seite das einzige realisierte Stück aus Brechts umfangreichen Ökonomieprojekt, an dem dieser, nicht zuletzt Marx Kritik der politischen Ökonomie lesend, Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre laborierte – ein Stück wie gemacht für unsere krisenzerrüttete Zeit; auf der anderen Seite ein junger Regisseur, der, etwa mit seinem Bochumer Nokia-Projekt Connecting People, seinen Wagemut zum relevanten Aktualismus bereits unter Beweis gestellt hat. Dass die Plakate, mit denen das JT für die Heilige Johanna warb, dann auch noch eine sich just über einen silberblitzenden Mercedes SL hermachende Jugend-Bande zeigten, schien da nur Bestätigung der Erwartung: Das wird wohl ein tagesaktuell aufgemöbeltes Brecht-Update geben. Das gute anti-kapitalistische Wohlfühlpaket. Was zum ideellen Anschmiegen. Was zum Abnicken. Was zum Danach-doch-mal-wieder-ein-wenig-mit-Marx-Zitaten-protzen. Oder so ähnlich.
Ein Liebespaar von der üblen SorteAber aus dem ›ähnlich‹ wurde nichts, fast nichts. Denn zunächst einmal arbeitet sich die Göttinger Inszenierung nicht am Heute, nicht an der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ab, sondern an diesem vertrackte dramatisch-ästhetischem Gebilde, das Brecht mit seiner Heiligen Johanna hinterlassen hat. Getragen von einer insgesamt soliden schauspielerischen Leistung und einem gekonnt gekürzten Skript baut sich die Handlung um den Chicagoer Fleischkönig Mauler (Dirk Böther) und Johanna Dark (Anne Düe) von der Heilsarmee auf. Diese beiden hat Abt, entschiedener als es Brechts Vorlage vorsieht, ins Zentrum seiner Interpretation gestellt. Am Ende werden sie das sein, was Brecht ihnen, obwohl auch er es mächtig knistern lässt, so ganz nicht zugestehen wollte: ein Liebespaar, allerdings eines von der üblen Sorte.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Wo Brecht allerdings Heere marschieren lässt, wo er Kollektive in teils chorisch angelegten Passagen durch die amerikanische Metropole bewegt, da lässt Abt Einzelpersonen sprechen. Die Göttinger Johanna ist ein Kammerspiel, kein Massenstück; ist reduziert inszeniert, ist, trotz der stets möglichen Gewalt eher zögernd, unspektakulär, gelegentlich fast intim. Dazu trägt bei, dass gerade einmal fünf Schauspieler das gute Dutzend Rollen bedienen, mit dem diese Inszenierung auskommt – eine womöglich ensemblebedingte, aber auch eine dramaturgisch interessante Entscheidung. So sieht man etwa die überzeugende Agnes Giese in der Rolle der betrogenen Arbeiterwitwe Frau Luckerniddle. Man sieht sie darüber hinaus als Martha, Kämpferin im Dienste der Heilsarmee. Und man sieht sie als Packherren, als jene Kapitalisten also, die das Elend der Arbeiter mitverantworten. Angezeigt werden diese mitunter raschen Rollenwechsel nur durch den Überwurf eines Jäckchens oder durch das Binden der Haare.
Das bleibt nicht allezeit frei von Verwirrung, hat jedoch gerade deshalb seinen ganz eigenen Reiz: Aufgelöst oder doch zumindest verwischt werden hier die Identitäten jener bei Brecht doch so klar konturierten Kollektive. Der Ursprung der Rede, ihre in der Figur verankerte ideologische Herkunft verliert sich passagenweise, bekommt etwas Vages. Damit aber gewinnt Brechts immer wieder klassisch-versifizierte Kunstsprache eine Autonomie gegenüber den Subjekten, die diese Sprache doch eigentlich gerade zu diesen oder jenen Zwecken einsetzen.
Es sind solche Techniken, mit denen Abt und sein Ensemble die ästhetische Qualität der Johanna freilegen. Dazu gehört auch, dass die Akteure ihre Monologe und Dialoge immer wieder gleich Statuen vorbringen: regungslos stehen sie dann da, körperlos beinahe. Als würden hier gar keine Rollen mehr gespielt, sondern nur noch Text rezitiert. Als sprächen keine Figuren mehr, sondern nur noch eine ästhetische Textur. Und dazu gehören schließlich die zahlreichen Textwiederholungen. Bis zu sechsmal werden einzelne Passagen repetiert, dabei von den Schauspielern jeweils anders moduliert, intoniert, den Text gleichsam wägend, auf seine ästhetischen Potentiale abtastend.
Vergessen das Brot, wir hatten ja Spiele.Der Versuch, die Johanna als Sprachkunstwerk zurückzugewinnen, mündet jedoch keineswegs im Ästhetizismus. Auch wird hier mehr versucht, als die ästhetische Inszenierung von Ideologie selbst noch einmal zu inszenieren. Offenkundig wird dies am Ende, das dann doch so etwas wie eine Aktualisierung anstrebt, obgleich es eine weniger inhaltliche, denn wirkungsästhetische Aktualisierung ist.
Brechts Johanna endet ja bekanntermaßen tödlich, zynisch und vor allem parodistisch. An einer Lungenentzündung erkrankt, kehrt Johanna ins Haus der Heilsarmee zurück, verstirbt dort und wird postwendend von den sich neu formierenden Kapitalisten als Heilige funktionalisiert: Um die Massen ruhig zu halten, da stimmt auch die Heilsarmee zu, bedarf es solch einer Ikone des Geistigen und Geistlichen, deren Andenken das Streben auf das Jenseits richtet und dadurch zugleich von der ungerechten Ordnung im Diesseits ablenkt. Doch die Göttinger Johanna stirbt nicht, sondern macht es sich, zwar verarmt, doch verliebt, mit ihrem ebenfalls gerade veramten Mauler in einer biederbürgerlichen Couchecke gemütlich.
Während Brechts Johanna am Ende den hohen idealistisch Pathos von Schiller und Goethe parodiert, scheint Abts Johanna am Ende dem Traum von Otto-Normalbürger erlegen: Sie und Mauler haben zwar nichts, doch zumindest haben sie sich. Dass auch das Parodie ist, ahnt man. Aber man vergisst es während (wie man meint: zum guten Schluss) lustig-bunte Ballons auf das Publikum niederregnen, während man – animiert von den Schauspielern, die Slogans wie »wir wollen doch alle das Gleiche: einfach mal durchatmen« oder »lasst die Liebe regieren« ins Publikum zwitschern – sich die Ballons erheitert zuspielt, sich zulacht und freut und zulacht und freut. Als wäre nun, Krise hin, Krise her, alles wieder in Ordnung.
Doch es bricht. Noch ist nichts am Ende. Die Handlung setzt wieder ein. Sich aneinander schmiegend, beschließt das Liebespärchen Mauler und Johanna nun, was bei Brecht einst nur Maulers Idee war: Der radikale Ausweg aus der (Fleischmarkt-)Krise führe nur über die Vernichtung eines Drittels der Waren, über die Entlassung eines Drittels der Arbeiter, über Lohnkürzungen um ein Drittel. Und Johanna lächelt. Sie lächelt. Und flüstert: »Es zieht mich zum Geschäft.«
Das ist, und darin wohl liegt die Leistung von Abts Inszenierung, eine Aktualisierung jenes Effekts, den das Ende der Brecht’schen Johanna einstmals wohl auslösen sollte. War es einst das hohe geistige Idyll der deutschen Klassik, das Brecht parodierend destruierte, so ist es heute die privatistische Heimeligkeit, aus deren vermeintlichem Frohsinn und -sein die Göttinger Johanna ihren Zuschauer herausreißt. Man hatte schlicht die Lage vergessen, als man sich fröhlich, kichernd die Ballons zuschubste. Vergessen das Brot, wir hatten ja Spiele.
Die geopferte Johanna.Eine solche Inszenierung muss freilich einen Preis zahlen. Johanna, die bei Brecht doch immer irgendwie jenes gute, jenes menschliche Wesen bleibt (»aus einer andern Welt ein Hauch«), das erst post mortem von anderen vereinnahmt wird, fällt dieser Inszenierung zum Opfer. Am Ende ist auch sie dramaturgisch destruiert. Ist käuflich geworden, wie alle anderen.
Insofern ist die Göttinger Inszenierung zutiefst melancholisch. Unterstützt von den wunderbar fernen und wehmütigen Soundcollagen, die das Stück unterlegen, werden wir einer Johanna gewahr, die heillos in jene Welt, in jene Mechanismen verstrickt ist, die sie doch eigentlich verändern wollte. – Auch der arme B.B. wusste es nicht besser.
[…] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Litlog erwähnt. Litlog sagte: Premiere der Heiligen Johanna der Schlachthöfe im Jungen Theater Göttingen. Peer Trilcke war da http://www.litlog.de/die-heillose-johanna/ […]