Sven Regeners Roman Herr Lehmann ist nicht nur Kult, sondern nun auch Grundlage für ein Theaterstück des ThOP. Trotz des historischen Settings ist der Stoff brandaktuell und zeitlos. Die Inszenierung wirft die zentrale Frage nach dem Sinn des Lebens auf, ohne abgedroschen zu wirken. Ganz nebenbei zeigt sie außerdem gekonnt die Grenzen zwischenmenschlicher Verständigung auf.
Von Viktoria Helene Ong
Die Premiere der Herr Lehmann-Inszenierung unter der Regie von Lena Aust und Johanna Mohrmann im ThOP war am 6. Mai restlos ausverkauft. Hierfür gibt es mehrere gute Gründe. Der eine ist, dass die Premiere endlich wieder in den eigentlichen Räumlichkeiten des ThOP stattfinden konnte. Der alte Theater- und ehemalige Schauoperationssaal der Universität wurde erst kürzlich nach aufwendigen Renovierungsarbeiten wiedereröffnet.
Die Geschichte von Herr Lehmann spielt in Westberlin. Nicht nur dieser Ort begeistert ein großes Publikum; vielmehr ist auch der historische Kontext bereits vom Romanautor Regener gut gewählt, denn wir befinden uns im Jahr 1989, wenige Monate vor der Wende also und, soviel darf verraten werden, mit dem Mauerfall erreicht das Geschehen um den Protagonisten seinen Höhepunkt.
Zur geschickt gewählten Kombination von Ort und Zeit des Geschehens kommen schließlich noch Eigenschaften des Zielpublikums, die das Stück ganz besonders anzusprechen vermag: nicht nur spielen viele junge Erwachsene (auch in Göttingen) mit dem Gedanken, irgendwann einmal in Berlin zu leben, sondern sie erkennen sich in den »lehmannschen« Abschweifungen und der Neigung des Protagonisten, scheinbar sorglos in den Tag hinein zu leben, wieder – Identifikationsfaktor sehr hoch.
Die stoffliche Grundlage birgt also mehrfaches Kultpotential, dem es auf der Bühne gerecht zu werden gilt. Einen Versuch unternehmen nun 17 SchauspielerInnen in einer ungewöhnlichen und eindrucksvollen Inszenierung.
Ideologische Grenzen im RaumDas Publikum sitzt bei bei der Vorführung nicht – wie für das ThOP üblich – geordnet auf den Rängen. Ergänzend stehen Holzstühle und kleine Tischchen auf der einen Hälfte der Bühne. Gespielt wird sowohl auf dieser Hauptbühne, als auch an verschiedenen Orten im Raum, so dass sich das Publikum mitten im Geschehen befindet und sofort in die Welt des jungen Protagonisten eingesogen wird.
Die Szene steht außerdem symptomatisch für die Tragik des gesamten Stücks. Ständig reden die Figuren aneinander vorbei und die Kommunikation läuft ins Leere. Frank, der von seinen Freunden und Bekannten durchweg »Herr Lehmann« genannt wird, wiederholt an dem Abend immer wieder ergebnislos den Satz »Die Kombination zwischen ›Du‹ und ›Herr Lehmann‹ ist das Schlimmste, was es gibt!«
Wortgefechte an verhärteten FrontenIn diesem Stück bewegen sich die Augen des Publikums ständig hin und her. Es besticht durch rasante Wechsel, nicht nur zwischen den Orten der Handlung, sondern auch zwischen den Figuren. Während Franks bester Freund, der Künstler Karl (Sascha Vennemann) die Komik des Protagonisten verstärkt und durch gewitzte Redeanteile für die meisten Lacher im Publikum sorgt, bildet die intellektuelle Köchin Katrin (Johanna Mohrmann) einen absoluten Gegenpart. Frank lernt sie zufällig kennen und liefert sich mit ihr sofort hitzige Wortgefechte.
Gestritten wird über die Frage, ob jeder Mensch einen Lebensinhalt benötigt und welcher sich als solcher qualifiziert. Die Fronten sind verhärtet: Katrin hinterfragt nicht nur Lehmanns saloppen Lebensstil, sondern auch die von ihm gewählte Existenz als Kneipier.
Die Zuschauenden verfolgen die von dieser Szene ausgehende Entwicklung der Beziehung zwischen Herrn Lehmann und Katrin mit Spannung. In seinem Bekanntenkreis wird Katrin nur zaghaft angenommen, eher wie ein Eindringling beäugt. Auch Herr Lehmann fühlt sich fremd in ihrer Welt, in der Schwimmen und Star Wars feste Bestandteile sind. Das Weltverständnis beider Figuren, ihre Vorstellungen von Moral, ihr Bild von Liebe per se, stellen einen besonderen Gegensatz dar.
Im Netz sozialer ZwängeFrank Lehmann stößt ständig an seine Grenzen: sei es beim Vordringen in Katrins Lebenswelt oder beim Versuch, seinen Eltern zu gefallen. Das Problem des Protagonisten, eine geschlossene Identität zu entwickeln, findet schließlich in einer ganz konkreten Grenzsituation seinen Ausdruck: Die Eltern schicken ihren Sohn nach Ostberlin, damit er im Auftrag der Großmutter 500 DM an eine entfernte Verwandte überbringt. Auf der Bühne steht ein Mann, der der nationalen Volksarmee anzugehören scheint. Mit bündigem Beamtendeutsch hindert er Frank Lehmann daran, nach Ostberlin einzureisen. Da dieser eine bürokratische Feinheit nicht beachtet hat, muss er sich letzten Endes geschlagen geben.
Das Äußere wird hier mehrfach nach innen gekehrt: der Protagonist kann die Landesgrenze nicht überschreiten und er befindet sich zugleich in einem Netz sozialer Zwänge. Frank Lehmann ist der Inbegriff einer fragmentierten und brüchigen Identität; nicht zuletzt deshalb besitzt diese Inszenierung, wie auch ihre Romanvorlage, ein hohes Maß an Aktualität. Durch Frank Lehmanns Unfähigkeit, die eigenen Konflikte zu lösen, kommt es zu inneren und äußeren Spannungen. Diese werden immer wieder durch Situationskomik entladen, wodurch ein tiefsinniges Theatervergnügen entsteht!