»Scheiße!“ – »Man fuck ey!!« – »Nicht schon wieder!« – »Knall ihn ab!« – »Ich mach euch alle!!!« – So die ersten Sätze des von Alexander Krebs inszenierten Stückes Jugend ohne Gott. Fünf Teenager stehen vor einer überdimensionalen Leinwand, hacken auf ihre Tastaturen ein, als säße der Feind auf Enter, Space und Escape, und geben sich dem Rausch eines Ballerspiels hin. Panzer und Pump Gun verbildlichen die verrohten jugendlichen Seelen.
von Malte Schiller
Der Versuch wird schnell deutlich: Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott spielt nicht länger zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, sondern unter der Herrschaft gewaltverherrlichender Videospiele. Der Klassenlehrer versucht mit aller Mühe seine Schützlinge für die Pflichtlektüre zu begeistern. Doch alles, was seine Schüler interessiert, sind digitale Realitäten. Die Schullektüre – passender Weise Jugend ohne Gott – ist langweilig, obschon man sie nicht gelesen hat. Stattdessen werden Pausenhofschlägereien mit der Handykamera mitgeschnitten und auf Youtube hochgeladen. Der Lehrer wird auf www.spickmich.de mit schlechten Noten abgestraft. In der Unterrichtsstunde diskutieren die Schüler hinter vorgehaltenem Buch per SMS über die neuesten Web-Games. Zwischen den Szenen werden Videos eingespielt, in denen betroffene Erziehungsberechtigte und Schulleiter mit gedämpfter Stimme erklären, dass es doch niemals soweit hätte kommen dürfen und dass man sich das alles nicht erklären könne: Er war doch eigentlich ganz normal. Und ganz normal werden die Jugendlichen auch zwischen Konsole und Mobiltelefon gezeichnet. Da ist der Outsider, der nicht als letzter Sex gehabt haben will, der Coole, der Schiss hat, ohne Trendklamotten nicht dazu zugehören, und das Mädchen, das fürchtet, nichts Besonderes zu sein.
Mit dem Klassenausflug will der Lehrer dann die Jugendlichen aus ihrem Cyber-Trott herausreißen. Es geht in die Berge und plötzlich vermischen sich die Geschichten von Buch und Bühne wieder: Die Klasse bewacht das Zeltlager gegen Diebe, ein Schüler verliebt sich in die Diebin und plötzlich wird einer der Schüler tot im Graben gefunden. – Wer ist der Mörder? Was bewegt einen Menschen zum Töten? Was macht einen Menschen so verroht, dass er kein Mitgefühl mehr empfindet? Um diese Fragen dreht sich das Stück.
Antworten gibt das Stück – und das muss man ihm zugute halten – keine. Das anfänglich stark verdichtete Motiv der gewaltgeilen Computerkids wird geschickt in die Horváth-Story integriert und spielt mit einem aktuellen Motiv aus der medialen Diskussion. Gleichzeitig will die Inszenierung aber von einer vorschnellen Verallgemeinerung – Ballerspiel-Nerd gleich zukünftiger Amokläufer – absehen. Entgegen der medialen Klischees versuchen Krebs & Co, Individuen mit eigenen Geschichten und Ängsten zu entwickeln. Hier allerdings lässt das Bühnengeschehen den Zuschauer jedoch nur ahnen, was die Schüler bewegt und welche Geschichten sie haben. Darin liegt mitunter ein Schwachpunkt der Inszenierung. Vieles passiert in den ersten Minuten auf der großen Leinwand im Hintergrund und nicht vorne auf der Bühne. Das Computerspiel nimmt bis zum Klassenausflug zu viel Raum ein, läuft parallel zu gespielten Szenen, lenkt ab – und irgendwann hat man’s halt auch verstanden.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Die Moral von der Geschicht scheint zu sein: »Die Wahrheit sagen lohnt sich zwar nicht, denn ich komme ja dafür in den Knast, aber wenn der Herr Lehrer das tut, dann will ich es auch so machen.« Von dieser plumpen Logik dürfte auch die jugendliche Zielgruppe des Stückes wenig überzeugt sein. Auch mit dem Klischee »ich bin so böse, weil meine Eltern sich nie um mich kümmern« hätte man nicht aufwarten dürfen, ohne es von vornherein in die Geschichte zu integrieren. So wirkt dieser Part am Ende mehr behauptet als etabliert und glaubwürdig. Dabei zieht Sven Rethemeyer in der Rolle des N alle Register, wenn es am Ende des Stückes darum geht, den kalt-neugierigen Jungen zu geben, der die Welt mit seiner Verachtung straft. Auch weitere Schauspieler schaffen ihren Figuren eigene Räume. So Felix Deymann in der Rolle des ambivalenten T, der im Laufe des Stückes von der Lust der Macht zur Entdeckung der Zärtlichkeit gelangt. Andererseits bleibt Dave Wilcox als Lehrer unter seinen Möglichkeiten. Nachdem er in der Marquise von O. nun bereits das zweite Mal in einer narrativen Rolle auf der Bühne stand, müsste klar sein, dass seine Stärken woanders liegen.
Noch ein Wort zur Romanvorlage: Was den Horváth-Text unter anderem so interessant macht, ist der verzweifelte und dabei am Abgrund zum Zynismus balancierende Ton des Erzählers. Horváth gelang es mit seiner Sprache, den Konflikt im Inneren des Lehrers intensiv auszubauen und die Verzweiflung spürbar zu machen – mit der Stimme des Erzählers, des Lehrers selbst. Was bei Horváth innen geschieht, wird auf der Bühne nach außen gekehrt (abgesehen von kurzen Monologen des Lehrers). Die Ironie der Betrachtungen des Lehrers können auf der Bühne nur noch im Kontrast mit anderen Charakteren – wie zum Beispiel dem Pastor oder dem Schulleiter – auftauchen. Dadurch geht der Geschichte ein Teil ihrer Wirkungskraft auf dem Weg vom Roman zur Bühne verloren.
Für ein junges Publikum dürfte diese Inszenierung aufgrund seiner aktuellen Thematik – Gewalt unter Schülern, Ängste auf dem Pausenhof, Kontrolle des Computers – interessant und spannend sein. Das Stück wirkt andererseits zwar immer ehrlich, aber deswegen nicht unbedingt glaubwürdig. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass die Schüler-Typen, die Horváth in seinem Roman benutzt – also gerade das Nichtindividuelle – auf der Bühne wenig Reiz entfalten. Das Geheimnis der kindlichen Seele bleibt der Bühne fern. Die Idee, den Stoff vor der Folie einer emotionslosen Computergeneration spielen zu lassen, ist aber immerhin ein diskussionswürdiger Ansatz und lässt einen das Theater nicht ohne Gesprächsstoff verlassen.