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Gebrochene Bilder

Stephan Schwingelers Kunstwerk Computerspiel ist eine interessante Studie, die nicht nur dem Phänomen Computerspiel im Allgemeinen mehr akademische Aufmerksamkeit schenkt, sondern es als Kunstwerk wie auch als Material für weitergehende künstlerische Verarbeitungen betrachtet.

Von Rashid Ben Dhiab

Dass das Computerspiel den medialen Kinderschuhen entwachsen ist und sich – zumindest vom Umsatz her – als feste Größe der Unterhaltungsindustrie neben Filmen und Büchern etabliert hat, ist schon längst kein Geheimnis mehr. Ursprünglich hervorgegangen aus technischen Spielereien einiger Wissenschaftler Ende der 1940er Jahre, hat sich das Computerspiel über die Jahrzehnte zu einem kommerziellen Produkt entwickelt und milliardenschwere globale Konzerne ins Leben gerufen. Was hingegen in den Augen der Öffentlichkeit nach wie vor zweifelhaft erscheint, ist der kulturelle Wert, den etwas bieten kann, das doch eigentlich nur »leichte Unterhaltung« verschaffen soll. Schließlich kann etwas, das primär aus kommerziellen Beweggründen geschaffen wurde, kaum anderen Zwecken dienen, oder? Dass dem nicht so ist, zeigen allerdings seit den 1990er Jahren diverse Künstler, die die Codezeilen von Computerspielen für ihre eigenen Werke verarbeiten.

Der Medienwissenschaftler Stephan Schwingeler widmet sich in seiner 2014 im transcript-Verlag erschienenen Dissertation Kunstwerk Computerspiel – Digitale Spiele als künstlerisches Material. Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse ebendiesen Künstlern und ihren Modifikationen populärer digitaler Spiele. Auf insgesamt 376 Seiten unterzieht er nicht nur diese Kunstwerke selbst einer Untersuchung aus dem Blickwinkel der Kunstwissenschaft, sondern beleuchtet dabei auch das Ausgangsmaterial und die Gattung Computerspiel an sich.

Erst die Arbeit …

Vor dem Analyseteil erwartet den Leser in Schwingelers Dissertation allerdings ein umfangreicher theoretischer Abschnitt, der fast die Hälfte des Werks einnimmt. Dieser ist unabdingbar für das Verständnis der nachfolgenden Kapitel. Schwingeler liefert dabei neben einem historischen Abriss des Werdegangs künstlerischer Computerspielmodifikationen auch einen Einblick in die Untersuchung des Spiels an sich. So zeigt der Autor aus spieltheoretischer Perspektive die Charakteristika verschiedener Arten des Spielens und unterschiedlicher Spielertypen auf.

Dabei wird schnell ersichtlich, dass das Computerspiel eine Sonderstellung einnimmt: Es stellt eine hybride Form aus audiovisuellem Medium mit narrativer Unterfütterung und ludischen Elementen dar. Sowohl digitalen als auch Spielen im analogen Raum ist gemein, dass sie es erforderlich machen, dass sich Spielende auf ein vorbestimmtes Set von Regeln einlassen und sich innerhalb dieser bewegen. Dennoch könne beispielsweise ein Fußballspiel keine Narration bieten, weder Zuschauern noch Teilnehmern. Auf der anderen Seite verlangten Medien wie Filme oder Bücher nach einem passiven Rezipienten, da sie die Vermittlung von Informationen oder eines Narrativs zum Ziel haben. Im digitalen Spiel treffen diese scheinbar gegensätzlichen Punkte zusammen.

Zusätzlich zeigt Schwingeler die grundlegenden grafischen Mechanismen auf, mit denen Computerspiele beim Spieler die Illusion erzeugen, sich innerhalb ihrer digitalen Welten zu bewegen. Was wir als Bewegung empfinden, ist in Wirklichkeit nichts weiter als eine permanente Aktualisierung von Bildern, die nach unseren Eingaben vom Computer ausgerichtet und von unserem Gehirn daher als Bewegung wahrgenommen werden.

Ober- und Unterfläche

Laut Schwingeler ergibt sich daraus ein einzigartiger Kontrast zwischen Transparenz und Opazität, was den Kern der von ihm untersuchten Kunstwerke darstellt. Computerspiele sind doppelte Bilder, deren Oberfläche sie dem Rezipienten zuwenden, während sie ihre Unterfläche vor ihm verbergen. Als Oberfläche bezeichnet Schwingeler das, was wir als Rezipienten von einem Computerspiel zu sehen bekommen und uns optisches wie akustisches Feedback auf unsere Eingaben liefert. Die Unterfläche hingegen ist der Programmcode, der darunter steckt und nur vom Computer gelesen werden kann. Das Spiel wird damit zur Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Diesen Kontrast heben die untersuchten Modifikationen hervor, indem sie die Transparenz der Oberfläche, also die uns vorgespiegelte Illusion, durch Eingriffe in den Programmcode aufbrechen und die opake Unterfläche sichtbar machen. Die daraus entstehenden Werke verweigern sich häufig durch diese Veränderungen ihrem ursprünglichen Zweck, werden also als digitale Spiele unspielbar. Schwingeler konzentriert sich in der zweiten Hälfte seiner Arbeit auf eine Auswahl von Kunstwerken, die einen besonders starken Einfluss auf die künstlerische Modifikation von Computerspielen hatten.

… dann das Vergnügen

In den fünf folgenden Kapiteln werden verschiedene Werke sowie deren Ausgangsmaterial vorgestellt und analysiert. Sehr positiv ist dabei anzumerken, dass auch für Computerspiele-Nichtkenner ein Zugang geschaffen wird, indem z.B. Erläuterungen über grundlegende Spielmechaniken und fachspezifische Begrifflichkeiten in die Untersuchung einfließen.

Buch


Stephan Schwingeler
Kunstwerk Computerspiel – Digitale Spiele als künstlerisches Material
Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse
transcript Verlag, Bielefeld 2014
376 Seiten, 34,99 €

 
 
Anhand von Arsdoom (Orhan Kipcak, Reini Urban), einer Modifikation des Actionspiels Doom II (id Software, 1994), die 1995 im Rahmen des Medienfestivals Ars Electronica in Linz ausgestellt wurde, zeigt Schwingeler, wie das einstige Skandalspiel durch seine offen gestaltete Programmstruktur erstmalig Künstler dazu anregte, Computerspiele als künstlerisches Material zu verwenden. Spätere Werke wurden allerdings auch durch direkte Eingriffe in den Programmcode hergestellt, wie beispielsweise Cory Arcangel 2002 mit Super Mario Clouds demonstrierte. Indem er die proprietäre – und physisch in einem Plastikmodul verschlossene – Software von Super Mario Bros. (Nintendo, 1985) manipulierte, löschte er alle zum Spielen benötigten Elemente und ließ nur den sich bewegenden Bildhintergrund zurück.

Andere Künstler wie Joseph DeLappe nutzen hingegen die Software als Bühne für Performance-Kunst. Sein Werk dead-in-iraq (2006-2009) bestand daraus, dass sich DeLappe in der Mehrspieler-Militärsimulation America’s Army (United States Army, 2002-2009) den Spielregeln widersetzte, seine Waffe niederlegte und den spielinternen Chat mit den Namen und Todesdaten gefallener Soldaten des Irakkrieges füllte. Diese und weitere Ansätze bewirken in der Praxis die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der transparenten zur opaken Seite des Computerspiels durch den Eingriff eines Künstlers.

Rüstzeug für die Zukunft

Stephan Schwingeler eröffnet mit seiner Dissertation eine neue Perspektive auf das – zumindest noch in der deutschen Medienlandschaft – Problemkind der medialen Welt. Er zeigt eindrucksvoll, auf welch mannigfaltige Weise man sich Computerspielen auch im akademischen Rahmen widmen kann. Die Arbeit besticht einerseits durch ihren immens hohen Informationsgehalt, sowohl hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes als auch in Bezug auf die historische Entwicklung von Computerspielen, und andererseits durch eine klare, leicht verständliche Sprache. Für geneigte Leser dürfte ein universitärer Hintergrund zwar sehr von Vorteil sein, um den Ausführungen in ihrer Gänze folgen zu können, aber auch ohne akademische Vorbildung sind die Kapitel nachvollziehbar. Wer zudem noch eigenes Wissen und Erfahrung im Bereich der Computerspiele mitbringt, wird sich mehr als einmal bestens informiert und unterhalten fühlen.

Kunstwerk Computerspiel ist eine erfrischende, originelle Arbeit und ein zweifelsfrei wichtiger Beitrag für die Zukunft der noch jungen Computerspielforschung.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 17. März 2015
 Kategorie: Wissenschaft
 TEST_LAB im Linzer Brucknerhaus während des Ars Electronica Festivals 2009 von Manfred Werner via Wikimedia
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