Christian Metz ist begeistert von der gegenwärtigen Dichtkunst, wie sein Sachbuch Poetisch Denken. Die Lyrik der Gegenwart verdeutlicht. Es zeigt, dass Interpretationen nicht immer die Rache des Intellekts am Kunstwerk sind, sondern manchmal ein Ausdruck ästhetischer Wertschätzung.
Von Johannes Leichsenring
…nicht mehr blind für das, was wir nicht erwarten.
(Christian Metz, Poetisch Denken)
Hätte man mich vor ein paar Monaten gefragt: Was denkst du über die gegenwärtige Lyrik? Ich hätte geantwortet: »Eine Zumutung! Keine Ahnung, was die da machen, keine Ahnung, was das soll!«, und hätte damit zugleich meine erste Leseerfahrung bezüglich der gegenwärtigen, deutschsprachigen Lyrik gespiegelt, genauer, die Lektüre der Lyrik von Monika Rinck. An dieser etwas Arme vor Brust verschränkten Haltung änderte sich dann auch erst einmal nicht sonderlich viel, bis der Literaturwissenschaftler Christian Metz im Rahmen eines Seminars mit – für mich damals erstaunlicher – Euphorie die ersten Zeilen aus Monika Rincks Honigprotokolle auseinandernahm, das heißt, zu interpretieren begann und es meinerseits zu einer etwas veränderten Haltung kam. Sie drückte sich in etwa so aus: »Is᾽ ja irre!«
Skepsis und die Frage, was Christian Metz da eigentlich machtDas war dann also auch die Motivation, mir das Sachbuch Poetisch Denken von Christian Metz zu organisieren, das – wie ich dann feststellte – im Internet und in den Feuilletons sehr unterschiedlich besprochen wurde; im Feuilleton auf eine lobende Weise, im Internet eher mit einer Tendenz, die kritisch zu fragen schien: »Was maßt der sich da eigentlich an?!« Und so dankbar ich auch über dieses ›Zugänglich-gemacht-Bekommen‹ einer mir zunächst fremden und nichtssagenden Ästhetik auch war, so war es mir doch auch – vielleicht im Zusammenhang mit den kritischen Besprechungen im Internet – irgendwie unbehaglich oder es erschien mir bedenklich, mich einer Lyrikerin auf so vorgekaute Weise zu nähern. Vielleicht fiel mir zu dieser Zeit auch die Polemik Against Interpretation von Susan Sontag wieder ein, was meiner anfänglichen Freude einen weiteren Dämpfer zufügte.
In ihrer (Susan Sontags) ästhetisch motivierten Interpretationsskepsis kritisiert sie das Interpretieren als reine Übersetzungsleistung, wobei das Kunstwerk (z.B. Gedicht, Erzählung) nur als »Durchgangsstation« von einer interpretierenden Leser*innenschaft genutzt würde, um zu den »wirklichen« und also nicht-expliziten Inhalten des Werkes zu kommen. Dem hermeneutischen Den-Text-Verstehen-Wollen wird bei Sontag eine den Text zähmende und manipulierende Eigenschaft zugesprochen. Interpretationen, schreibt sie weiter, »deuten stets auf eine (bewusste oder unbewusste) Unzufriedenheit mit dem Werk hin, auf den Wunsch, es durch etwas anderes zu ersetzen.«
Aber was macht Christian Metz in Poetisch Denken. Die Lyrik der Gegenwart eigentlich genau? In erster Linie führt er die Leser*innenschaft in seinem Buch systematisch in die Lyrik der Gegenwart und ihre poetologischen Programme ein; zunächst mittels einer allgemeinen Sondierung der Lyrikszene im Zeitraum zwischen 2000 und 2017 und deren theoretischen Konzeptionen, dann durch die Vorstellung von vier Autor*innen anhand einzelner Arbeiten, die er interpretiert. Warum eine solche Einführung in die Lyrik der Gegenwart dringend notwendig war (sofern sich diese Frage überhaupt stellt), ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen Metz᾽ spekulativer Annahme, dass in der Zukunft genau diese Zeit als die »Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik« bestaunt werden würde und der Tatsche, dass eigentlich nur sehr, sehr wenige Personen überhaupt von den Dynamiken, Entwicklungen und von den Autor*innen und ihren Werken und Konzeptionen (Dichtungen, Essays, Performances) etwas erfahren haben. Und wenn doch einzelne etwas davon erfahren haben sollten, so reagierten vielleicht nicht unbedingt alle ausgesprochen begeistert darauf.
Ein Beispiel zur Vorgehensweise von Poetisch DenkenUnd je länger ich Metz las, desto klarer wurde mir, warum ich bei den Gedichten – milde gesagt – etwas ins Schleudern geraten war (was per se nichts Schlechtes ist), was wohl dazu führte, dass ich nicht unbedingt viel mit dieser speziellen Ästhetik anfangen konnte. »Nicht unbedingt« schreibe ich, da ein solches lektürebedingtes Schleudertrauma vielleicht eine wünschenswerte Sache ist, wenn man sich einmal darauf einlässt. Was aber das Lesen der Gedichte und Essays von Monika Rinck so erschwert, sind nicht nur (um nur ein paar Beispiele zu nennen) die krummen Sprachbilder, die sich nicht mehr ineinanderfügen, die Korrektionen im Text, die zu
Ein gutes Beispiel dafür, wie Christian Metz die Arbeiten von Lyriker*innen interpretativ vorstellt, ist die Arbeit trainingsziele aus Monika Rincks Gedichtband Verzückte Distanzen. Die Basisinterpretation von Metz läuft auf einen Witz hinaus, der durchaus amüsieren kann (natürlich nicht gleichermaßen, wenn man ihn erklärt bekommt). Dem Gedicht zufolge trainiert ein*e Sportler*in unter Beobachtung ihres*seines Trainers*in, in den sie*er verliebt ist.
Das offizielle Ziel von Trainer (Verausgabung über die Schmerzgrenze) und das Gefühl der Athletin (Liebeskummer) decken sich […] zufällig im Zeichen des Tränenflusses.
Das Training wird dem*der Athlet*in zum Mittel »der heimlichen Liebe näher zu kommen«, wobei sie*er gewieft genug ist, sich »die Träne […] auf der Leistungsliste gutschreiben zu lassen«. Was aber nach Metz im Gedicht vor allem thematisiert wird, sei die Frage, »wie man sich der Dialektik zwischen Leistungsaufforderung und Selbstdisziplinierung geschickt entziehen kann«. Christian Metz verweist auf intertextueller Ebene auf das »Rilke-Diktat Du-musst-dein-Leben-Ändern‹«, das sich in der Gegenwart zum Selbstoptimierungsgebot verformt habe. Monika Rincks besonderes Interesse für dieses Thema entspringe dabei dem Phänomen des »erschöpften Selbst«, wie es Christian Metz in seinem Kapitel Let᾽s go – Let go! Lyrik im Zeitalter des negativen Narzissmus darlegt.
Dem Individuum sei in der modernen Gesellschaft, wie auch Andreas Reckwitz in seiner Studie Die Gesellschaft der Singularitäten zeigt, nicht nur die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu individualisieren und zu verwirklichen, sondern es gerate auch durch die Forderung zur Selbstverwirklichung und zur Individualisierung mehr und mehr unter Druck. Dem Credo, man könne alles sein, was man wolle, alles leisten, wenn man nur wolle und seine Kreativität entgrenzt entfalten, folge eine imaginierte, so Metz, »Multi- und Totalpotenz«, die sich nicht mehr realisieren ließe – trotz aller Selbstoptimierung. Die Selbstzweifel, ein brüchiges Selbstwertgefühl, Depression und Burn-Out bilden die logischen Konsequenzen. Das Dilemma bestehe nun aber darin, dass gerade das Streben nach »Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung […] wesentliche Werte und hart erkämpfte Errungenschaften der modernen Gesellschaft« sind. In dieses Spannungsverhältnis schreiben sich Monika Rincks Texte ein und verhandeln dabei vielleicht auch eigene Erfahrungen. Diese Annahme liege zumindest nah, wenn man sich die Bedingungen anschaue, unter denen Lyriker*innen Anfang der 2000er begannen, den »riesigen poetischen Freiraum« für sich einzunehmen. Neben der Produktion eigener lyrischer Werke, die neben der Erwerbstätigkeit stattfinden musste, bedurfte es, ebenfalls in der Freizeit, des Aufbaus von Verlagen, der Organisation von Aufführungsorten und der Etablierung von Vertriebsstrukturen.
Interpretation als Akt ästhetischer WertschätzungWie Christian Metz selbst interpretationsskeptisch schreibt, braucht Lyrik »keine Erklärungen«, auch wenn sie diese provoziert und nach Metz »den Dialog« sucht. Diesen Dialog versucht Metz zu kreieren, indem er zunächst selbst auf unterschiedliche Weise mit der Lyrik der Gegenwart in den Dialog tritt, in der Hoffnung, dass die Leser*innen von Poetisch Denken sich ermutigt fühlen, sich selbst in direkten Auseinandersetzung mit den Arbeiten von beispielsweise Monika Rinck zu begeben, um eigene Lesarten zu finden und/oder zu entwickeln. Dabei kommt dem Interpretieren bei Metz, wie ich finde, eine besondere Aufgabe zu. Es sollte daher nicht als Ausdruck einer »Unzufriedenheit mit dem Werk« verstanden werden, welches durch die Interpretation ersetzt werden soll (wobei der Text von Metz dieses Gefühl ohnehin nicht aufkommen lässt), auch nicht als Zähmung der Kunstwerke oder gar als »Rache des Intellekts«, sondern als ein – wie es Susan Sontag ebenfalls forderte – »Aufzeigen, weshalb unsere Erfahrung ist, was sie ist, ja selbst, dass sie ist was sie ist.«
Christian Metz ist begeistert von der Lyrik der Gegenwart und dazu motiviert, diese bei der intendierten Leser*innenschaft seines Buches zu befördern. Sein Interpretieren steht damit keinesfalls in einem Gegensatz zu einem ästhetischen Wertschätzen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass das Interpretieren hier als ein Akt der ästhetischen Wertschätzung gesehen werden kann. Wer zu dieser theoretischen Aussöhnung zwischen ästhetischer Wertschätzung und Interpretation mehr wissen will, dem sei empfohlen einmal Tillmann Köppes Sprechstunde aufzusuchen. Wer Interpretation als ästhetische Wertschätzung erfahren möchte, kann u.a. zu Poetisch Denken von Christian Metz greifen.