Der Bühnenschlager The Black Rider, im Original von Robert Wilson, Tom Waits und Skandalautor William S. Burroughs, wird am DT Göttingen unter der Inszenierung von Beate Baron zu einem Heterotop aus Deutschem Märchenwald und Wild Wild West. Sebastian Böck zeigt sich begeistert.
Von Sebastian Böck
The Black Rider erzählt die Geschichte einer Verführung. Wilhelm liebt Käthchen und Käthchen liebt Wilhelm. So weit, so gut und in dieser Konstellation noch vergleichsweise undramatisch. Dass Käthchen jedoch die Tochter des hiesigen, um den Erhalt seiner Dynastie besorgten Erbförsters und Wilhelm ein eher schwachbrüstiger Schreiberling aus der Stadt ist, der obendrein noch nie in seinem Leben einen Schuss abgefeuert geschweige denn einen Hirsch erlegt hat, verkompliziert die Sache ein wenig. Als Ehemann und Stammhalter für das Jagdflinten-Patriarchat hat der Vater stattdessen einen richtigen Kerl, den Weidmannsburschen Robert, vorgesehen, woraufhin Wilhelm kurzerhand beschließt, den Federkiel gegen den Karabiner einzutauschen, um sich auf der Jagd doch noch als potenzieller Schwiegersohn zu bewehren. Mit der Potenz ist es allerdings nicht allzu weit her: Sämtliche Schüsse gehen fehl und der Liebende steht vor dem Abgrund. Und weil aus Abgründen für gewöhnlich verführerische Stimmen locken, deren Einflüsterungen man mindestens mit Vorsicht begegnen sollte, erscheint aus dem Waldesdunkel auch alsbald eine Gestalt, die dem Unglücklichen eine einfache Lösung seiner Probleme verspricht – freilich ohne den Preis zu benennen, der am Ende dafür gezahlt werden muss …
Das Deutsche Theater Göttingen nimmt sich der doppelten Geschichte in dieser Spielzeit unter Leitung von Beate Baron an. Den gewaltigen Schatten der Originalinszenierung auf sich spürend, entwickelt die Regisseurin ihren Zugang dabei aus einer emanzipatorischen Perspektive heraus: Um nicht, wie manch vorangegangene Adaption dieses mittlerweile zum Bühnenschlager gereiften Stückes, der Versuchung zu erliegen, die groteske Ästhetik von Wilsons Rider zu affirmieren, zeigt sich Barons Version sichtlich um eine eigene Bildsprache bemüht. So sucht man expressionistische Stummfilm-Kulissen hier ebenso vergebens wie ein Kostümdesign, das einen an eine Kreuzung aus Klaus Nomi und Corpse Bride erinnern würde. Anstelle von schwarzgewandeten Gestalten mit zu viel Theaterschminke bevölkern Bleichgesichter der völlig anderen Art die Bühne: Cowboys und Cowgirls, stilecht mit Stetson-Hut und Lederfransen und knöpfbarer Ganzkörperunterwäsche. Der deutsche Wald als Sehnsuchtsort überblendet sich mit seinem nicht weniger überhöhten amerikanischen Pendant, der ungezähmten Wildheit des Westens.
Anton von Lucke, Emre Aksızoğlu, Vanessa Czapla und Gerd Zinck
Das Bühnenbild nimmt die Idee dieser Überblendung auf. Als Heterotop – als Ort, der viele Orte ist – dominiert Silke Bauers wuchtige Holz- und Stahlkonstruktion das Geschehen. Mal Waldesdunkel, Mondscheinlichtung oder Felsmassiv, mal Jagdverschlag und mal Familienresidenz. Besteig- und durchdringbar steht dieses rätselhafte Ding im Zentrum allen Handelns, welches es stets wie ein unheilvoller Monolith überragt. Die Trennlinien zwischen Natur- und Kulturraum gehen in der Vielgestalt seiner Formen dabei ebenso auf wie jene zwischen Chaos und Ordnung, Innen und Außen. Dass die Lust der Theatermacher am Verwischen und Verschränken, am Übereinanderlegen, Vergleichen und Verwirren generell keine Grenzen zu kennen scheint, sei an dieser Stelle einmal ausdrücklich gelobt. Es ist eine Freude dabei zuzusehen, wie das Spiel mit Versatzstücken auf nahezu allen Ebenen der Inszenierung vorangetrieben wird, von den detailverliebten Kostümen und Requisiten bis hin zur anspielungsreichen Figurenzeichnung.
Überaus gelungen ist zudem auch die musikalische Umsetzung: Ebenso stimmgewaltig wie facettenreich präsentiert das Göttinger Ensemble seine erste Musiktheater-Performance seit dem Intendantenwechsel im vergangenen Jahr und der einhergehenden Neubesetzung. Vanessa Czapla als Käthchen (I’ll shoot the Moon), Moritz Schulze als Wilhelm (Lucky Day) sowie Benjamin Krüger als Robert (November / Crossroads) und Andrea Strube als Käthchens Mutter (But He’s Not Wilhelm) stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass sie dem breit aufgefächerten, zwischen poppigen Balladen und rockig-schrägem Dark Cabaret oszillierenden Repertoire mehr als nur gewachsen sind. Großartig gespielt, gesanglich jedoch vergleichsweise schwach ausgefüllt wird die Titelrolle des Black Rider alias Stelzfuß von Emre Aksizoğlu (Just the Right Bullets), der den diabolischen Invaliden zum verschroben-charismatischen Drogendealer uminterpretiert und damit die Sympathien des Publikums für sich zu gewinnen weiß. Die schauspielerischen Highlights gehen allerdings eindeutig auf das Konto der beiden ‚Erzählerfiguren‘: Ronny Thalmeyer als Käthchens Vater und Gerd Zinck als Wilhelms Onkel.
Während Letzterer als Conférencier die Handlung von einer als Whiskybar aufgemachten Nebenbühne aus nicht bloß wortgewitzt, sondern außerdem mithilfe von Farbe und Leinwand kommentiert, monologisiert Ersterer in mitunter existenzphilosophischer Manier vor sich her und gewährt dem Publikum so einen Blick in die Untiefen der Burroughs‘schen Gedankenwelt. Kolorit verleihen nicht zuletzt die beiden Gastdarsteller Nancy Pönitz (Brautjungfer) und Anton von Lucke (Kuno). So glänzt Pönitz in ihrem Trachtenkostüm als bizarrer Todesengel, der akkordeonspielend (A Russian Dance) über die Bühne schwebt. Den alten Kuno, jenen überväterlichen Begründer des Erbförstertums, verkörpert von Lucke als im Wandschrank deponierten Säulenheiligen, ein zum Deko-Objekt erstarrtes Ideal, das nach mancherlei heroischer Vorlage (von John Wayne bis zum Marlboro-Mann) posieren sowie ab und an abgestaubt werden darf.
Everything goes … terribly wrong!Kuno ist ferner diejenige Figur, welche den nihilistischen Kerngedanken des Stückes am deutlichsten benennt, indem er ihn mit einem Motto überschreibt. Zunächst noch als mirakulös wiederholte Beschwörungsformel (»Tout swaz ir welt!«), schließlich dann in aller ernüchternder Deutlichkeit: »Tut, was ihr wollt! Auf nichts ist Verlass. Wenn nichts etwas gilt, gilt wenigstens das.«
Moritz Schulze, Vanessa Czapla und Emre Aksızoğlu
Der Nihilismus dieses Black Rider ist ein ausgelassener, dadurch jedoch nicht minder bedrohlicher. Einer, der lächelt und dabei die Zähne zeigt. In Zeitlupe verzerren sich die Gesichter der Hochzeitsgesellschaft zu vorwurfsvollen Grimassen, weil der traditionelle Probeschuss des Bräutigams nicht etwa die erzielte weiße Taube vom Himmel holt, sondern stattdessen das Brautkleid Käthchens in ein dunkles Rot umfärbt. Mit einem Lachen, das im Halse stecken bleibt, hebt sodann der schaurige Abgesang des Unglücksschützen an, eines vom Liebesglück in den Wahnsinn Abgleitenden:
Tell the boys back home
I’m doing just fine
I left all my troubles and woe
So sing about me
For I can’t come home
I’ve many more miles to go[…]
So don’t cry for me
For I’m going away
And I’ll be back some lucky day
Mehr schreiend als singend, mit Tränen in den leeren, weit aufgerissenen Augen führt Wilhelm sein Gewehr zum finalen Amoklauf. Unter dem Donnern der Schüsse fallen nicht nur sämtliche Figuren des Stückes, sondern mit ihnen die bereits brüchigen Kategorien von Sinn und Moral: Tut, was ihr wollt – es wird schon schiefgehen. Oder auch nicht.