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»Ein viehischer Mensch«

Kurt Tucholsky schrieb 1913: »Das Theater ist bei Büchner, der ein Dramatiker war von Geburt, ein buntes erleuchtetes Loch, vor dem die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen sitzen«. Leider waren an diesem Abend die Augen der Zuschauer, die sich Woyzeck im Jungen Theater anschauten, eher halb geschlossen und suchten von Zeit zu Zeit die Uhr.

Von Christian Dinger

Bei dem Frühlingswetter, das sich neuerlich über die Stadt gelegt hat, wagten sich an diesem Samstagabend nicht viele Zuschauer in den dunklen Saal des Jungen Theaters. Während in den umliegenden Kneipen wieder draußen gesessen und auf dem Campus wieder gegrillt wird, wird auf der JT-Bühne Woyzeck gespielt, jenes Stück, mit dem jährlich reihenweise Schüler gequält werden, das verwirrt und fasziniert. Um dieses Fragment zu inszenieren, muss man sich etwas einfallen lassen. Und zunächst macht es den Eindruck, als hätte das auch jemand gemacht.

Aus Papiersäcken werden Woyzecks ausgepackt, drei an der Zahl, und schließlich von Hauptmann, Doktorin und Marktschreier dressiert und vorgeführt. Der viehische Mensch wird präsentiert, der im Naturzustand Belassene, von Erziehung und Kultivierung Unberührte, der von der rationalistischen Gesellschaft mit einer Mischung aus Abscheu und Belustigung betrachtet wird. Schnell wird klar, zu welchen Zwecken diese Kreaturen der Gesellschaft dienlich sind: zur Unterhaltung, zum Dienen und als Gegenstand der Wissenschaft. Und so müssen die drei Woyzecks Kunststückchen und Tanzeinlagen aufführen, ihre Herren umhertragen und Erbsen aus einem Trog fressen, um danach von der Doktorin ihre Entwicklung begutachten zu lassen.

Das Stück

Woyzeck
Regie: Alexander Krebs
Weitere Termine
05.04., 08.04., 15.04., 19.04. jeweils um 20 Uhr

 

Junges Theater

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Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.

 
 
Dies könnte der Einstieg für eine gelungene Aufführung sein, eine gute Exposition, von der aus sich die Handlung, die inneren und äußeren Konflikte Woyzecks und Maries, hätten aufspannen können. Aber es scheint so, als hätte die Inszenierung mit dieser ersten Idee bereits all ihr Pulver verschossen. Die Dressierszenen werden häufig wiederholt und geben der Aufführung eine unnötige Langatmigkeit ohne dramatische Steigerung. Die eigentliche Handlung, das, was die Behandlung mit Woyzeck und Marie macht, das, was aus ihnen wird und wie sie sich entwickeln, scheint fast wie notdürftig angehängt.

Gelingt es den Darstellern zu Anfang noch beim Zuschauer durch die Dressierszenen Mitleid oder Scham zu erzeugen und vielleicht auch Neugier, wie unter diesen Voraussetzungen die Handlung in neuem Licht erscheinen könnte, so wirkt die Darstellung der handlungstragenden Szenen schließlich spannungslos, wie zufällig hineingerufene Zitate aus dem Stück, ein Fragment eines Fragments. Hin und wieder flammt Pathos auf, das den Zuschauer aber nicht mitnimmt, weil es unvermittelt kommt, nicht aus einer Spannung heraus. Kurt Tucholsky schrieb 1913: »Das Theater ist bei Büchner, der ein Dramatiker war von Geburt, ein buntes erleuchtetes Loch, vor dem die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen sitzen«. Leider waren an diesem Abend die Augen bei Büchner eher halb geschlossen und suchten von Zeit zu Zeit die Uhr.

Ganz zum Schluss wird es doch noch etwas interessant. Der letzte übriggebliebene Woyzeck verbindet Hauptmann und Doktor die Augen, die fortan orientierungslos umherirren, und verlässt den Saal. Ein Aufruf? Ein Hoffnungsschimmer? Jedenfalls weniger vorhersehbar als der Rest und das ist ein Pluspunkt.

Man könnte meinen, wenn der Anfang und das Ende gut waren, trifft es auch auf die ganze Inszenierung zu. Leider, leider tut es das nicht.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 4. April 2011
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 Leonie
 5. April 2011, 23:26 Uhr

Manche Augen waren auch weit geöffnet: in einer Inszenierung, die durch den choreographischen Einsatz von Körperlichkeit dem Zuschauer nicht überwiegend intellektuelle Kopfarbeit abverlangte, sondern vielmehr die Bereitschaft zur Erfahrbarkeit von Narrativität. Büchner ist Bewegung. Das wurde im JT mehr als plastisch dargestellt.

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