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Büchner-Abend
Historisches Blutbad

»Aux armes, citoyens, formez vos bataillons, marchons, marchons!« Unter dem Gesang der Marseillaise geleiten die Jakobiner einen einstigen Verbündeten zum Galgen. Beim Büchner-Abend im JT Göttingen brillieren Studierende der Schauspielschule Kassel mit einer Ästhetik des Schäbigen.

Von Stefan Walfort

Während das Publikum noch Platz nimmt, gurkt Sebastian Freitag bereits im Blaumann mit einem Rasenmäher über die Bühne. Will er das Gras stutzen, in das sich Leonce und Valerio zum Faulenzen fläzen werden? Weit und breit ist von Gras nichts zu sehen. Stufen führen zu einem Plateau, auf dem statt einer Guillotine ein aus Holz gezimmerter Galgen thront. Er erinnert an das Exemplar, mit dem vor kurzem in Dresden ein Teilnehmer der Pegida-Demonstration auffiel.

Während sämtlicher Szenen wird der Strick über den Köpfen der Menschen baumeln. Wie ein Damoklesschwert wird er an die Omnipräsenz des Terrors erinnern, unter deren Schatten sie im Kontext der Französischen Revolution und ‒ unter anderen Vorzeichen ‒ in der Restaurationszeit des 19. Jahrhunderts ihr Dasein fristeten. Acht Studierende aus Kassel stellen unter der Leitung des Intendanten Nico Dietrich am 20. Februar 2016 auf der Bühne des Jungen Theaters ihr Können unter Beweis. Neben dem Spiel von Passagen aus Büchners Flugschrift Der Hessische Landbote verspricht ihr Programm die Interpretation einiger Lebensstationen des im Alter von 23 Jahren verstorbenen Dichters. Zudem präsentieren sie einen Querschnitt durch die Dramen Leonce und Lena, Woyzeck und Dantons Tod.

Im Business-Look zur Revolution: (v.l.) Isabelle Heathcote, Robin Middeke, Katharina Brehl
Faible für Gewalt

Im Business-Look betritt Isabelle Heathcote die Bühne. Den Mähenden scheucht sie fort; sie mahnt, jeden Augenblick werde das Schauspiel beginnen. Das Ensemble tritt auf. Die jungen Leute sind etwa so jung wie der Büchner des Jahres 1834, in das sie das Publikum entführen. Zuerst geht es in die hessische Heimat des sozialrevolutionär gesinnten Sprösslings einer bildungsbürgerlichen Familie. Drei Jahre zuvor hatte er in Straßburg ein Medizinstudium begonnen und war damit in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Sein zunehmendes Interesse für die Ideen der radikalen Linken stellte das Verhältnis der beiden mehr und mehr auf die Probe; er las die Schriften Robespierres, am 5. April 1833 schrieb er an seine Eltern: »Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.« Noch im selben Jahr wechselte er die Universität und das Studienfach. Fortan widmete er sich in Gießen der Philosophie und der Geschichte der Revolution. Mit Enthusiasmus engagierte er sich politisch, mit Gleichgesinnten hob er nach dem Vorbild französischer Untergrundgruppen hessische Sektionen einer Gesellschaft der Menschenrechte aus der Taufe. 1834 formulierte er gemeinsam mit Friedrich Ludwig Weidig den Hessischen Landboten.

Agitation gegen die Verhältnisse

Unter Gebrüll des berühmten Diktums: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« fliegt die erste Seite des mit einer illegal erworbenen Druckerpresse gefertigten und konspirativ publizierten Pamphlets ins Publikum. Dass Büchner wegen der Urheberschaft steckbrieflich gesucht worden war, wird ins Bewusstsein gerufen. Mitstreiter und Verbreiter ließ die Obrigkeit verhaften. Durch Flucht ins französische Exil entzog sich Büchner dem gleichen Schicksal. Seinen Kampf gegen ausbeuterische Verhältnisse setzte er mit Hilfe während der Straßburger Studienzeit geknüpfter Kontakte fort.

Das Stück

Kooperation des Jungen Theaters mit der Schauspielschule Kassel
Leitung: Nico Dietrich
Szenenstudium: Agnes Giese, Andrea Tralles, Viktor Dell, Rafael Meltzer, Sebastian Rückert
Mit Katharina Brehl, Sophia Dobers, Daniela Drachholz, Isabelle Heathcote, Kristin Heil, Sebastian Freitag, Robin Middeke, Yorick Tortochaux
Aufführungsdauer 60 Minuten
Premiere am 20. Februar 2016
Nächste Vorstellungen: 23./ 24./ 26. Mai 2016

 

Junges Theater

logo Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Seit September 2014 zeichnen Intendant Nico Dietrich und Tobias Sosinka als Künstlerischer Leiter für die Qualität des Angebots verantwortlich.
 
 
Die Summe von 6.363.363 Gulden wird mit Kreide an die Fassade des Bühnenraums gekritzelt. Stellvertretend für die Vormärz-Gesellschaft müssen sich die Zuschauer_innen verhöhnen lassen. Den Verfassern zufolge ließen sie sich allzu bereitwillig vom Staat das mühsam verdiente Geld rauben. Allzu bereitwillig ließen sie zu, dass ihr »Schweiß [als] das Salz auf dem Tische des Vornehmen« diene. Der Allianz der Restaurateure setzten Büchner und Weidig sowohl an kommunistische Ideale als auch an die biblische Botschaft erinnernde Heilsversprechen entgegen. Folgerichtig beschwören die Schauspieler_innen gen Ende der Szene im Chor die Aussicht auf ein Paradies auf Erden.

Verschwitzte Deadline

Als sich Sebastian Freitag, nach wie vor im Blaumann, via Mikrophon als Georg Büchner ausgibt, reagiert das Publikum erheitert. Weil vermutlich die meisten reflexartig das von August Hoffmann gezeichnete, von den Covern diverser Klassikerausgaben bekannte Porträt aus dem Gedächtnis abrufen, ist das Befremden perfekt. Ein Lustspiel mit dem Namen Leonce und Lena wolle er schreiben, so verkündet der Büchner-Darsteller voller Zuversicht auf Erfolg. Noch ahnt er nicht, dass er die Abgabefrist für das Preisausschreiben, bei dem er sich mit dem Drama zu bewerben plant, verschwitzen wird. Erst nach seinem Tod 1837 infolge einer Typhus-Infektion wird es veröffentlicht werden. Robin Middeke als Valerio und Yorick Tortochaux als Leonce spielen den Akt, in dem die beiden vor lauter Müßiggang allerlei Spleens ausbrüten: Leonce hielte es beispielsweise für erstrebenswert, wenn er sich auf den eigenen Kopf gucken könnte. Selbst durch einen Handstand vermag ihm das aber nicht zu gelingen.

Pappkrone und Knabbergebäck

Valerios Gebärden muten regelrecht manisch an ─ seine Grimassen, seine Sprünge, wie er Leonce beim Herumblödeln eine scheppernde Backpfeife verpasst, so dass diesem die Brille von der Nase saust. In himmelblauer Schürze und mit gelben Gummihandschuhen pustet Katharina Brehl unterdessen Seifenblasen in die Luft. Sie sind Sinnbilder für die zerplatzenden Träume einer Arbeiterin, für die ein Leben in Saus und Braus ewig unerreichbar bleiben wird. Bevor die Zuschauer_innen allzu sehr über den Sinn und den Unsinn des Kontrasts ins Grübeln geraten, werden sie mit »Frau Königin« (Daniela Drachholz) konfrontiert: Die Herrscherin vom Reiche Popo tritt im Unterhemd, mit zerlöcherter Trainingshose, mit Pappkrone, an der bunte Steinchen blinken, auf. Betont lässig schaut sie drein. Mit einem glitzernden Zepter aus Hartplastik erteilt sie Instruktionen. Dazu kaut sie Knabbergebäck. Bevor ihre Dienerinnen sie in einen Pelzmantel kleiden, wirft sie angewidert die Tüte zu Boden. »An was wollte ich mich erinnern?«, fragt sie mehr sich selbst als ihre Angestellten. »Ja, das ist´s, das ist´s. Ich wollte mich an mein Volk erinnern!« Die Konfusion wirkt überzeugend; das Publikum honoriert das schmunzelnd.

Von links: Robin Middeke, Isabelle Heathcote, Daniela Drachholz, Katharina Brehl, Sebastian Freitag, Lucia Stamac, Sophia Dobers, Yorick Tortochaux
Die Klinge an der Kehle

Gegenüber ihrem Sohn Leonce kündigt sie dessen baldige Zwangsheirat mit Lena, der Prinzessin vom Reiche Pipi, an. Der Verzicht auf jedwede Darstellung der Flucht nach Italien, wie sie die Textvorlage vorsieht, führt zu einem zu abrupten Übergang zum Woyzeck. Im Schnelldurchlauf jagt das Ensemble durch den Plot; die durch die fragmentarische Struktur ohnehin begünstigte Irritation intensiviert sich so noch: Hatte Woyzeck (Sebastian Freitag) just erst den Hauptmann (Daniela Drachholz) zum Rasieren eingeschäumt, so spürt Marie (Kristin Heil), nachdem sie mit dem Tambourmajor (Yorick Tortochaux) ein Tänzchen gewagt hatte, schon die Klinge des ihr den Garaus bereitenden Messers an der Kehle. Besonders anspruchsvoll, aber sicherlich sehenswert und zum Veranschaulichen von Parallelen zur Gegenwart fruchtbar wäre ein Versuch gewesen, die Szene des Messerkaufs zu dekonstruieren. Inwieweit Büchner durch das Stigmatisieren des Verkäufers mittels antisemitischer Stereotype eine Persiflage des Antisemitismus lieferte, gilt als umstritten. Das Ensemble hätte eine Kontroverse darüber entzünden können.

Stattdessen schleift Sebastian Freitag als volltrunkener Simon mit den Worten: »Du Syphilis-Schleuder!« seine Gattin an den Haaren über die Bühne, und es beginnt der Höhepunkt des Abends: Das Revolutionsdrama Dantons Tod schließt eine Klammer um Klamauk, Eifersucht und Mord und klagt mit dem Versinken des vom »Blutmessias« Robespierre geführten Wohlfahrtsausschusses im amoralischen Morast Heilslehren à la Hessischer Landbote als Irrwege geschichtsvergessener Illusionisten an.

Hymne zur Hinrichtung

Danton, Mitglied der Bergpartei Robespierres und Abgeordneter des Nationalkonvents, genießt die letzten Tage des Lebens in vollen Zügen: Unter einem weißen Laken weitet er, berauscht vom Wein, ein Rendezvous mit Marion (Sophia Dobers) zu einer Ménage à trois aus. Zwar fürchtet er das drohende Unheil. Dass ihm die radikale Fraktion das Leben nehmen werde, will er aber nicht recht glauben. Es folgt der Disput mit Robespierre (Isabelle Heathcote). Dieser erklärt den ehemals Verbündeten zum Verräter und entscheidet: »Er muss weg.« Als die Jakobiner den Geschassten zum Galgen geleiten, stimmen sie die Marseillaise an. Es herrscht Gänsehautfeeling.

Es ist, wie Stefan Zweig im fünften Kapitel seiner Sternstunden der Menschheit erörterte, das Flair eines »schrittbeflügelnden, patriotischen Marschgesangs«, das dazu drängt, die Menschen von ihren Sitzen zu reißen. Es ist ein über die Brutalität der Parolen hinwegtäuschendes Flair ─ eine brillant inszenierte Ästhetik des Schäbigen. Obwohl zuletzt lauter Leichen das Resultat eines vermeintlichen Kampfes für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind, vermochte das historische Blutbad diese Ideale nicht dauerhaft zu diskreditieren. Vielmehr konnten sie sich als Grundpfeiler jeder demokratisch organisierten Gesellschaft etablieren. Woran der Galgen auf der Bühne gemahnt, ist die Erfordernis, derlei Ideale zu verteidigen ─ wann immer sogenannte Patriot_innen danach trachten, Demokrat_innen aufzuknüpfen.



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 Veröffentlicht am 2. März 2016
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