Über einen Mangel an literaturwissenschaftlichen Lehrbüchern im Allgemeinen und solchen zur Erzähltheorie im Besonderen kann man heute kaum klagen. Nicht alle sind gut. Hier ist eins, das zur Kenntnis zu nehmen sich in jedem Fall lohnen dürfte.
Von Jan Borkowski
Hundert Jahre sind ins Land gegangen, seit Käte Friedemann in Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910) als eine der ersten konsequent zwischen Autor und Erzähler des narrativen Textes unterschieden hatte. Mittlerweile ist daraus ein erzähltheoretisches Kommunikationsmodell geworden, das vier Ebenen und acht Instanzen aufweist. Mit dem Zugewinn an analytischer Differenziertheit geht allerdings auch eine gewisse Unübersichtlichkeit einher. Sie ist nicht untypisch für die gegenwärtige Situation der Erzähltheorie als solcher, in der unterschiedliche Ansätze mit je eigenen Konzepten und Begriffssystemen koexistieren. Prästrukturalistische Modelle wie z.B. Stanzels ‚Typenkreis der Erzählsituationen’ finden immer noch oder wieder Verwendung; der gemäßigt strukturalistische Entwurf von Genette wurde vielfach aufgegriffen, kritisiert und modifiziert; ‚postklassische’ Ansätze integrieren Kategorien wie z.B. gender oder rezipieren kognitionswissenschaftliche Einsichten.
Überhaupt lässt sich ein großes Interesse für narratologische Fragestellungen feststellen, das in einer Vielzahl von Forschungsbeiträgen seinen Niederschlag findet.1 Gleichzeitig gibt es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kategorie ‚Erzählen’ Tendenzen, den Gegenstandsbereich massiv auszuweiten und – Stichwort narrative turn – die nächste kopernikanische Wende einzuläuten.
In ihrer Einführung in die Erzähltextanalyse zeigen Silke Lahn und Jan Christoph Meister den geneigten Studierenden einen Weg durch das Dickicht der Ansätze und das Labyrinth der Begriffe. Das erklärte Ziel besteht darin, eine erzähltheoretische Heuristik für die Praxis der Textanalyse zur Verfügung zu stellen, ohne die theoretisch-systematischen Zusammenhänge zu vernachlässigen. Hier geht es also um das narratologische Kerngeschäft. Etwa je ein Drittel des Textes stammen von Lahn und Meister, für die anderen Teile konnten weitere Mitarbeiter gewonnen werden.
Zunächst wird erläutert, was unter ‚Erzählen’ zu verstehen ist (Kap. I). Es folgt ein kurzer Blick auf die Geschichte der Erzähltheorie, der es dem Leser ermöglicht, die im weiteren Verlauf des Buches angewandten oder erwähnten Ansätze forschungsgeschichtlich zu verorten (Kap. II). Im Anschluss werden mit Autor/Autorkonzept, Paratext und Genre drei Zugänge zum Erzähltext vorgestellt (Kap. III). Der Band schließt mit einem Ausblick auf Erzählen in anderen Gattungen (Lyrik und Drama) sowie – am Beispiel des Films – in anderen Medien (Kap. V).
Bei den Ausführungen in diesem Kapitel findet eine Terminologie Anwendung, die sich an Wolf Schmids Erzähltheorie orientiert.2 In den einzelnen Unterkapiteln werden zunächst die favorisierten Begriffe und Modelle erläutert. Darüber hinaus werden auch die jeweiligen begriffsgeschichtlichen und theoretischen Zusammenhänge erörtert. Aufs Ganze gesehen ergibt sie so ein differenziertes und umfassendes Analyseinstrumentarium, das den state of the art ausgewogen kodifiziert.
Besonderes Augenmerk wurde offensichtlich der Art und Weise der Darstellung gewidmet. Hier liegt sicherlich ein weiterer großer Vorzug dieses Lehrbuches. Die Fülle an Informationen wird aufgrund der klaren Formulierungen, der transparenten Disposition und der zahlreichen visuellen Hilfsmittel nicht zu einem narratologischen Rauschen, sondern bleibt im Gegenteil stets verständlich. Insbesondere die vielen hilfreichen Schaubilder leisten dazu einen Beitrag.3 Sie veranschaulichen abstrakte Sachverhalte und verdeutlichen strukturelle Zusammenhänge zwischen einzelnen Aspekten. Zudem werden sie eingesetzt, um über die Anlage der einzelnen Unterkapitel zu informieren. Einleitende Passagen erklären oder rufen in Erinnerung, an welchem Punkt der Ausführungen man sich gerade befindet, bilanzierende Passagen fassen Leitfragen der Analyse zusammen und lenken so den Blick erneut auf das Wesentliche. Farbliche Hervorhebungen und Fettungen, eine Marginalienspalte und die listenförmige Zusammenstellung zentraler Punkte dienen der Auffindung relevanter Aspekte; visuell abgehobene Beispiele und Interpretationsskizzen illustrieren das Gesagte; wichtige Informationen sind in Tabellen zusammengefasst (z.B. die verwendete Terminologie und deren Alternativbezeichnungen in anderen Ansätzen); Hinweise wie ‚Literatur zum Weiterlesen’ oder ‚Zur Vertiefung’ fehlen ebenfalls nicht. Schließlich enthält das Buch auch ein umfangreiches Glossar und neben dem Personen- auch ein Sachregister. Alles in allem handelt es sich also um eine ausgesprochen leserfreundliche Darstellungsweise, die einen leichten Einstieg in die Thematik und schnelle Orientierung ermöglicht.
Einführung in die Erzähltextanalyse bietet zum einen in leicht verständlicher Aufbereitung das Handwerkszeug, um Erzähltexte zu analysieren. Aufgrund seiner Anlage eignet es sich auch zum Nachschlagen einzelner Begriffe oder Aspekte. Zum anderen stellt der Band darüber hinaus das erforderliche Orientierungswissen zur Verfügung, um sich eigenständig und vertiefend mit narratologischen Fragen zu beschäftigen. Seine Stärken liegen sicherlich darin, dass es in inhaltlicher Hinsicht aktuell, differenziert und umfassend angelegt und zugleich formal ausgesprochen gut aufbereitet ist. Damit handelt es sich nicht einfach um ein weiteres Lehrbuch unter anderen, sondern um eine Publikation, die – abhängig vom gegebenen Orientierungsbedarf – eine echte Alternative zu bereits vorhandenen Erzähltheorie-Lehrbüchern sein kann.4 Für diejenigen, die sich mit Erzähltextanalyse beschäftigen möchten oder müssen, dürfte sich daher ein Blick in dieses Buch in jedem Fall lohnen.
Hallo Jan,
ich komme erst jetzt dazu, einen Kommentar zu deiner Reszension zu verfassen, da ich mich zuvor mit diesem Werk nicht beschäftigt habe. Deine Reszension finde ich vom Aufbau und der Darstellung durchaus gut, bin aber inhaltlich etwas anderer Meinung. Ich muss dazu allerdings anmerken, dass ich nicht das gesamte Buch gelesen habe, sondern lediglich reingelesen und einen Abschnitt detailliert durchgegangen bin. Es mag Zufall sein, dass gerade dieser in meinen Augen fehlerhaft ist, aber so wie sich der Abschnitt IV. I. mir präsentiert, ist dieser an einigen Stellen irreführend, teilweise auch falsch oder zumindest sehr unglücklich formuliert.
Beispielsweise ist die zitierte Passage von Friedemann mit der (auch zumindest sehr ungenauen) Kantexegese, woraus geschlossen wird, dass kein Erzähltext ohne fiktiven Erzähler auskommt, stark angreifbar. Erst einmal stimmt das nur bedingt, denn ob man tatsächlich davon ausgehen muss, dass Anna Karenina einen Erzähler besitzt, mag ich doch bezweifeln. Es ist zwar richtig, zwischen Autor und Erzählinstanz zu unterscheiden, aber die Begründung, weshalb ein jeder Text von einem fiktiven Erzähler begleitet werden muss, ist schlicht und ergreifend falsch. Lahn/Meister behaupten, dass die Auswahl, wie und was dargestellt ist, eine Auswahl des fiktiven Erzählers ist. Im Grunde wird also behauptet, dass ein real existenter Text von einer fiktiven Person erschaffen wird.
Ein anderer Schwachpunkt ist in diesem Kapitel zu finden, wenn Lahn/Meister die Unterscheidung der Erzählebenen mit Diegesis und Exegesis von Schmid einführen, um direkt im nächsten Absatz für die Position des Erzählers zum Text das Vokabular von Genette zu verwenden. Die Unterscheidung der Erzählebenen von Genette hingegen bleibt an der Stelle unerwähnt. Dieses durcheinanderwerfen von den beiden Begrifflichkeiten unterschiedlicher Autoren, halte ich an der Stelle für den unbedarften Leser für irreführend.
Ein letzter Kritikpunkt ist die Verwendung von Termini, die letztlich keine Bedeutung in dem gewählten Kontext haben. Das betrifft in der Passage den Begriff der Ontologie (der gerade, weil zuvor Kant als Position bezogen werden soll, sehr kritisch zu betrachten ist, wenn bedacht wird, wie Kant zur Ontologie stand). Kritisch ist es deshalb zu sehen, weil Erzähler und erzählte Welt nur in den seltensten Fällen unterschiedlichen ontologischen Verpflichtungen/Bedingungen unterliegt. Die Ontologie als Unterscheidung der Erzählebenen ist ein nicht wirklich brauchbares Kriterium.
Ansonsten gefällt zumindest mir die typographische Umsetzung nicht wirklich. Der Text wirkt zerfleddert, unübersichtlich und überladen. Aber das ist letztlich keine Kritik an Lahn/Meister, sondern mehr an Metzler.
Soviel meine bescheidene Meinung dazu. Beste Grüße,
Florian