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Eine empfindsam-idyllische Szene

Die Rolle und Funktion des Empfindsam-Idyllischen in Friedrich Heinrich Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung aus dem Jahr 1792

Von Felix Knode

Einleitung

Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) ist vor allem durch seine erkenntnistheoretische Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785/1789) zu einem wichtigen Philosophen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts geworden. Die Forschung hat Jacobi inzwischen philosophisch als signifikanten Vorbereiter idealistischer Philosophen wie Fichte, Schelling und Hegel herauskristallisiert und gewürdigt.1 Jacobis literarische Werke fristen im Gegensatz zu den philosophischen Schriften immer noch ein Schattendasein. Die Frühfassungen der Erzählwerke gelten als nachahmende Verarbeitungen von Goethes Die Leiden des jungen Werthers und die Spätfassungen werden als philosophische Schriften betrachtet. Dabei weisen gerade die späteren Werke narrative Erweiterungen auf, die gegen eine genuin philosophische Betrachtung sprechen. Vielmehr rückt mit diesen die Frage in den Fokus, wie die philosophische Ebene des jeweiligen Werkes narrativ vermittelt wird und wie die erzählte Handlung mit dieser Ebene zusammenhängt. Diese beiden Fragen werden als Leitfragen für die Untersuchung von Jacobis Eduard Allwills Briefsammlung in der Spätfassung von 1792 fungieren2, die unter besonderer Berücksichtigung empfindsam-idyllischer Szenen thematisiert werden. Dabei wird die These entfaltet, dass die Beschreibung empfindsam-idyllischer Szenen dazu genutzt wird, eine anthropologische Erkenntnis darzustellen. Mit der Darstellung von empfindsam-idyllischen Szenen wird eine ›geistige Phänomenologie‹ thematisiert, die intersubjektiv nicht vermittelbar ist und die daher nur annäherungsweise durch Sprache dargestellt werden kann. Aus diesem Grund weisen die empfindsam-idyllischen Szenen eine hervorgehobene Funktion auf und stehen im thematischen Fokus. Einleitend ist daher zu klären, welche konkreten Merkmale empfindsam-idyllische Szenen als spezifische Form des Idyllischen signifikant auszeichnen.

Empfindsam-idyllische Szenen

Der Begriff des Empfindsam-Idyllischen3 ist den idyllischen Szenen vorbehalten, die eine narrativ eindeutig subjektive Bindung an das erzählende Subjekt aufweisen und die von dem jeweiligen erzählenden Subjekt erlebt wurden. Erzählendes und erlebendes Subjekt fallen bei empfindsam-idyllischen Szenen zusammen, wobei die Zeitrelation zwischen Erlebnis und Erzählung unterschiedlich weit auseinanderliegen kann. Konstitutiv für eine empfindsam-idyllische Szene ist die Lokalisation in einem ästhetisch hervorgehobenen, naturalen Raum, der zu einem besonderen innerlichen Zustand führt. Folglich beschreibt eine empfindsam-idyllische Szene eine Raum-Zustandskonstellation. Diese Konstellation kann als Verbindung eines subjektiv, ästhetisch wahrgenommenen, naturalen Raums mit einer naiven Wirklichkeitsauffassung als Ausdruck eines besonderen innerlichen Zustands näher bestimmt werden. Der naturale Raum kann als locus amoenus beschrieben werden, das ist der angenehme und schöne Ort. Naivität wird als die Transferierung des Innerlichen einer literarischen Figur in das Äußerliche verstanden.4 Eine naive Wirklichkeitsauffassung offenbart sich darin, dass innerliche Ausdruckformen wie Erinnerungen, Gefühle und Wünsche unreflektiert auf das Äußerliche, verstanden als innerfiktionale Lebenswirklichkeit, projiziert werden. So beschreibt eine empfindsam-idyllische Szene eine Raum-Zustands-Konstellation, bei der das erlebende Subjekt an einem besonderen naturalen Ort für eine gewisse Zeit zu einem Zustand des ›Selbstseins‹ gelangt.

Reihe

Die Vortragsreihe der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) Um die Ecke gedacht – Perspektiven geisteswissenschaftlicher Nachwuchsforschung bot im Sommersemester 2018 wieder Einblicke in diverse Forschungsfelder der Geisteswissenschaften. Die Essays dreier Vortragender werden an dieser Stelle veröffentlicht. Sie ermöglichen einen Ausblick auf Themenbereiche, für die »um die Ecke gedacht« werden muss.
Außerdem erschienen in der Reihe ein Beitrag zu Strandbildern in der niederländischen Malerei und einer zum ephoralen Leitungsprofil.

 
 

Jacobis Erzählwerk Eduard Allwills Briefsammlung in der Spätfassung von 1792 und das Empfindsam-Idyllische

Einführung

Das Erzählwerk Eduard Allwills Briefsammlung ist ein Briefroman, der mit einer Vorrede eingeleitet wird, die eine Herausgeberfiktion entwirft, und endet mit einem zugegebenen Brief des fiktiven Herausgebers. Es liegt also eine Rahmung der einundzwanzig Briefe auf Narrationsebene vor.5 Diese Briefe stellen bis auf wenige Ausnahmen eine private briefliche Korrespondenz zwischen Sylli an dem Ort E*** und der Familie um Clerdon an dem Ort C** dar.6 Diese schwerpunktbildende Briefkommunikation zwischen Sylli in E*** und Clerdon in C** wird unter besonderer Berücksichtigung empfindsam-idyllischer Szenen untersucht, wobei der Fokus auf den ersten Briefen der Sammlung liegt. Nach der Vorrede des fiktiven Herausgebers folgt eine »Einleitung«, in der alle briefschreibenden Figuren einmal mit Namen genannt und kurz vorgestellt werden.7 Der Schwerpunkt in dieser Einleitung liegt deutlich bei der Figur Sylli, die als empfindsame Protagonistin der Briefsammlung konstituiert wird. Dies untermauern die ersten beiden Briefe, die jeweils von Sylli an Clerdon geschrieben worden sind. In dem ersten Brief, der auf »[d]en 6ten März« (97) datiert ist, schreibt Sylli über »eine sonderbare Gemütsstimmung« (97), die sie in letzter Zeit plagt. Die Briefschreiberin Sylli wird als Witwe des verstorbenen Bruders von Heinrich Clerdon eingeführt, die neben ihrem Mann auch ihr einziges Kind im Alter von zwei Jahren verloren hat. Alle verbliebenen Verwandten und Freunde Syllis befinden sich an dem Ort C**, sie selbst muss jedoch auch nach dem Tod ihres Mannes in dem Ort E*** verweilen, weil sie die »Verwickelung [in] eine[n] durch niederträchtige Treulosigkeit gegen [Syllis verstorbenen Mann] angesponnenen Rechtshandels« (95) zu Ende führen muss. Aufgrund dieser Lebensgeschichte, die durch tragische Schicksalsschläge geprägt ist, wird ihr eine besondere Anlage und Neigung zur Sentimentalität und Melancholie zugeschrieben.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Briefe, die Sylli nach C** adressiert, einen enormen emotionalen und zwischenmenschlichen Wert für sie haben, denn durch die Briefe hat sie über Zeit und Raum hinweg Kontakt zu den Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuten und denen auch sie wirklich etwas bedeutet. Zwischenmenschlichkeit, die sich gesellschaftlich vorgegebenen Zwecken verwehrt, wird als Exklusivität betrachtet, die einer ›empfindsamen Seelengemeinschaft‹ vorbehalten ist. So berichtet Sylli in dem ersten Brief der Sammlung über einen Todesfall, der sich in E*** ereignete. Sie reflektiert die Wirkung dieses Todesfalls in ihrem Inneren, denn sie ist überraschend gefühllos und abgeklärt, da sie merkt, dass »einem um Trost bange wäre, wenn man nicht wüßte, daß unter allen diesen Hochbetrübten [der Angehörigen], keiner ist, der nicht der Gattinn, Mutter, Freundin, bey ihrem Leben immer ganz entbehren konnte«. (97f.) Sie war entbehrlich im Leben, weil sie laut Sylli ein Mensch im Leben war, der zwar gesellschaftliche Erwartungen zur Zufriedenheit erfüllte, aber kein eigentümliches Inneres lebte, der sich als Mensch vollkommen anpasste und somit nur Objekt einer Gesellschaft war, aber kein Subjekt eines eigenen Inneren. In Anbetracht eines solchen menschlichen Lebens verfällt Sylli in nihilistisch geprägte Gedanken, die sie zutiefst deprimieren und sie fragt: »Du mit den vielen Namen, das die Menschen alle zu einander zerrt, durch einander schlinget; was bist du? Quell und Strom und Meer der Gesellschaft: woher? Und wohin?« (98) Im Kontext dieser »unerträglichen Gedanken« (ebd.), die Sylli in eine melancholische Gemütsstimmung werfen, endet der erste Brief der Sammlung.

Identifizierung einer empfindsam-idyllischen Szene

Der zweite Brief der Sammlung ist ebenfalls von Sylli geschrieben und an Clerdon adressiert. Er ist auf »[d]en 7ten März« (99) datiert, sodass zwischen dem ersten und zweiten Brief nur ein Tag liegt. Der erste Brief Syllis wird von diesem zweiten entschieden kontrastiert und entwirft durch die Darstellung einer empfindsam-idyllischen Szene ein Daseinsbewusstsein, das der nihilistisch geprägten Daseinsauffassung gegenbildlich gegenübersteht. Im Folgenden wird die empfindsam-idyllische Szene dieses Briefes näher betrachtet:

Dieser Tag sollte recht genossen werden. Ich wollte unter freyem Himmel die Sonne auch untergehen sehen. Wir nahmen unsern Weg über die Wälle. Ich verweilte an dem Orte, wo ich vor zwey Jahren im späten Herbste mit Dir stand, und Du von der weiten mannichfaltigen Aussicht so entzückt warest. »Säh er sie jetzt!« Ein lieber Frühlingshauch wehte mich an, und stellte Dich an meine Seite. O wie war rund um uns alles so herrlich, so schön! Aber es ließ sich nicht lange so ansehen; ich begab mich weg. Nun kam ich an die Stelle, wo man den langen, breiten Weg um die Ecke nach S** gerade vor sich sieht. – »Da kam ich her vor sechs Jahren; da kam vor zwey Jahren Clerdon her; da geht der Weg hin. – Ach wann?« Du erinnerst Dich der Lage: eine unabsehbare Fläche; nichts das Auge zu hemmen; der Weg ganz gerad aus, und so breit, und so eben – Wie ich darüber hinrollen könnte! – Indem ließen sich nahe bey, gleich hinter der Stadtmauer, zwey Instrumente hören. Es war eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen, sie begleiteten und fortführten. Da ließ ich mich denn gehen, ließ es mir so werden, daß ich die Augen recht naß hatte. Meine gute Sophie neben mir wartete alles mit Freundlichkeit ab. Auf mein Stöckchen gelehnt blieb ich lange so da stehen: endlich lief ich hurtig mit ihr nach Hause, und – Gute Nacht Clerdon! Amalia, Schwestern, gute Nacht! (100)

In diesem Brief wird von Sylli durch die Beschreibung des Spaziergangs eine empfindsam-idyllische Szene dargestellt. Das geschilderte Erlebnis wird als empfindsam-idyllisch betrachtet, da die thematisierten Merkmale des Empfindsam-Idyllischen identifiziert werden können. So liegt eine eindeutig subjektive Bindung an das erzählende Subjekt, das ist die Briefschreiberin Sylli, vor, die das erzählte Geschehen auch selbst erlebt hat. Sylli ist damit erzählendes und erlebendes Subjekt, wobei die Zeitrelation zwischen Erlebnis und Erzählen gering ist, da das Erleben und das Erzählen beides am selben Tag stattfindet.8 In Syllis Fall ist der locus amoenus der Ort, an dem sie »vor zwey Jahren im späten Herbste mit [Clerdon] stand, und [er] von der weiten mannichfaltigen Aussicht so entzückt war[]« (100). Dieser Ort ist bei dem Spaziergang im März noch schöner, denn Sylli schreibt: »Säh er sie jetzt!« (ebd.) und lässt den angeschriebenen Clerdon so an ihrem inneren Zustand teilhaben. Gleichzeitig artikuliert sie mit dieser schriftlichen Wiedergabe eines gedanklichen Ausrufs auch ihre subjektive Raum- und Naturwahrnehmung, bei dem der gegenwärtige Moment betont wird und als besonders schön und innerlich erweckend empfunden wird. Der evozierte, besondere innerliche Zustand Syllis im geschilderten Augenblick wird durch die sentimentale Erinnerung verdeutlicht, die thematisiert, dass sie vor zwei Jahren zusammen mit Clerdon an diesem Ort war und er damals schon als ein natural schöner Ort von Clerdon betrachtet worden ist.

Doch das gegenwärtige Erleben dieses Ortes wird von Sylli als ästhetische Erfahrung der Natur innerlich intensiver aufgefasst als damals. Die empfindsam-idyllische Szene ist bei Sylli dadurch geprägt, dass sie sich phantasmatisch Clerdon an ihre Seite imaginiert. So schreibt sie: »Ein lieber Frühlingshauch wehte mich an, und stellte Dich an meine Seite. O wie war rund um uns alles so herrlich, so schön! Aber es ließ sich nicht lange so ansehen; ich begab mich weg.« (ebd.) Der Frühlingshauch als minimale Einwirkung der Luft auf Syllis Körper hat die signifikante, geistige Bedeutung, für den vertrauten Freund Clerdon zu stehen. So ist imaginativ vorstellbar, dass der Lufthauch von einer Bewegung Clerdons verursacht worden ist, wenn er in physischer Realpräsenz neben ihr stünde. Diese phantasmatische Realpräsenz Clerdons wird in diesem Brief als Kulminationspunkt der innerlich besonderen Daseinserfahrung betrachtet, die durch die empfindsam-idyllische Szene beschrieben und vermittelt wird, denn in dieser Situation kehrt Sylli ihr Inneres ins Äußere. Das Innere drückt sich bei Sylli durch den sehnsüchtigen Wunsch aus, dass Clerdon mit ihr die ästhetische Naturerfahrung teilt, dass er real präsent ist und nicht nur durch die Briefe ausschließlich schriftlich vermittelt an ihrem Leben Anteil nimmt. Das Phantasma der Realpräsenz Clerdons wird als kurzer Augenblick gedeutet, in dem Sylli eine naive Wirklichkeitsauffassung als Artikulationsform ihres Inneren aufweist. In diesem Zusammenhang wird verdeutlicht, dass Sylli mit der freundschaftlichen Beziehung zu Clerdon eine besonders tugendhafte Zwischenmenschlichkeit und einen melodischen Einklang zur naturalen Umgebung beschreibt. So heißt es am Ende des Briefes: »Indem ließen sich nahe bey, gleich hinter der Stadtmauer, zwey Instrumente hören. Es war eine Flöte und eine Harfe, die ganz vortreflich in meine Melodie einfielen, sie begleiteten und fortführten.« (ebd.)

Funktion des Empfindsam-Idyllischen

Sylli hat den locus amoenus als Erinnerungsort an eine gemeinsame Zeit mit Clerdon verlassen und blickt nun auf den Weg, der in Richtung C** führt. Die Betrachtung dieses Weges bringt Sylli zum Weinen. Sie wird zu einer inneren Melodie geführt, die durch die Flöte und die Harfe untermauert wird. Auch wenn Sylli schreibt, dass die Stadtmauer in der Nähe war, ist doch möglich, dass auch hier die Melodie der Instrumente aus dem Inneren Syllis entspringt und damit gar nicht real existent ist, sondern Sylli die Instrumente hört, weil sie Ausdruck ihres Innerlichen sind. Die Instrumente werden als Verweise auf Hirtendichtung, wie die Idyllen Salomon Gessners von 1756, gedeutet und implizieren das ›menschlich Natürliche‹.9 Der ›natürliche‹ Mensch priorisiert das Innerliche vor dem Äußerlichen.10 Als Ausdruck des Subjektiven wird Gefühlen und Empfindungen mehr Bedeutung zugewiesen als dem Verstand und der Vernunft als Ausdruck des gesellschaftlich vorgegebenen Intersubjektiven. Diese Priorisierung erscheint als Exklusivität des Menschseins und zeichnet Sylli als besonderen Menschen aus. Diese exklusive Besonderheit Syllis prägt vehement ihre freundschaftliche Beziehung zu Clerdon. Unter diesem Vorzeichen wird die Freundschaft selbst zu einer subjektiven Exklusivität, denn diese innerliche Verbindung, die Sylli zu Clerdon durch die Briefe herstellt, entspricht keiner gesellschaftlichen Erwartung und Notwendigkeit, sondern ist Offenbarung des Inneren Syllis. In der Freundschaft der beiden bestimmen nicht intersubjektiv herrschende Muster und Strukturen die Empfindung, das Wahrnehmen, das Denken und letztlich auch das Handeln, sondern ›der Mensch-an-sich‹, konkret Sylli in ihrer eigentümlichen Einzigartigkeit, gelangt zur Artikulation.

Mit der empfindsam-idyllischen Szene wird eine innerlich besondere Daseinserfahrung dargestellt. Die Wahrnehmung einer als angenehm und schön empfundenen naturalen Umgebung führt zur spürbaren Gewahrwerdung des Innerlichen und beschreibt einen Zustand des ›Selbstseins‹, der sich in der Betonung der figurengebundenen Subjektivität zeigt. Die naturale Umgebung wird in einer intensiven Art und Weise subjektiviert geschildert und dadurch gleichzeitig abstrahiert und transzendiert. Die Natur entfaltet durch ästhetische Eindrücke eine innerlich spürbare Wirkung zwischen dem subjektiv wahrnehmenden Menschen und seiner naturalen Umgebung. Der Mensch, hier Sylli, fühlt, dass er im Kern seines Daseins einen Funken Leben in sich trägt, der nicht dem ewigen Werden und Vergehen des Kreislaufes der Natur untergeordnet ist. Die briefliche Beschreibung der empfindsam-idyllischen Szene von Sylli wird durch die Etablierung des Geistes als innerer Kern des Menschen zu einem Moment der Individuation. Im Sinne der Naivität als Wirklichkeitsauffassung ist die Beschreibung der empfindsam-idyllischen Szene, die Sylli an Clerdon schreibt, keine naturale Detailbeschreibung, sondern Ausdrucksform ihrer Innerlichkeit und artikuliert auf diese Weise Sylli als Individuum. Der Brief Syllis berichtet über eine Daseinserfahrung, die als Erlebnis des ganzen, menschlichen Selbstseins Syllis beschrieben werden kann.

Die schriftliche Formulierung dieser Selbsterfahrung als Subjekt steht vor der Herausforderung, das sprachlich Nicht-Vermittelbare durch die Darstellung der empfindsam-idyllischen Szene zumindest durch schriftliche Sprache annäherungsweise zu beschreiben. Durch das Schreiben reflektiert Sylli diese Erfahrung und schreitet auf diese Weise von der Subjektkonstitution zum Ausleben der eigenen erlebten Eigentümlichkeit und entfaltet so als Agierende ihr ›eigenes Ich‹ in der Briefkorrespondenz mit Clerdon. Aus diesem Grund übernimmt die empfindsam-idyllische Szene eine individuationskonstituierende Funktion. Der Brief als schriftliches Kommunikationsmedium der Freundschaft wird vor diesem Hintergrund zur entscheidenden Ausdrucksform von Innerlichkeit. Die betrachtete empfindsam-idyllische Szene erfüllt im Gesamtzusammenhang des Erzählwerks die Funktion, Sylli zu der Erkenntnis zu führen, dass sie aufgrund ihres innerlichen Kerns ihres Daseins nicht bloß fremdbestimmtes Objekt des intersubjektiven Gebildes der Gesellschaft ist, sondern einen ›geistigen Funken‹ in sich trägt, der für ihre Einzigartigkeit als Mensch bürgt. Diese Spürbarkeit des eigenen ›Geistes‹ wird zur anthropologischen Erkenntnis. Die Erweckung des Innerlichen wird zu einem ›neuen Daseinsbewusstsein‹.

Fazit

Jacobis Erzählwerk Eduard Allwills Briefsammlung weist im zweiten Brief eine empfindsam-idyllische Szene auf, die einen deutlichen Kontrast zum ersten Brief bildet und im Gesamtzusammenhang des Werks eine wichtige Rolle und Funktion für die Charakterisierung der empfindsamen Protagonistin Sylli erfüllt. Mit der Gegensätzlichkeit des ersten und zweiten Briefes der Sammlung wird die Thematik des Oszillierens zwischen sozial notwendiger Eingliederung in gesellschaftlich intersubjektive Strukturen und der Entfaltung der eigenen, eigentümlichen Subjektivität eröffnet. Die Entfaltung der Subjektivität scheint dabei nur im Rahmen einer exklusiven Freundschaftsbeziehung möglich und findet als innerliche Koexistenz zum Gesellschaftlichen statt. Die thematisierte empfindsam-idyllische Szene Syllis ist die schriftliche Darstellung einer anthropologischen Selbstbestimmung, die der Protagonistin im Gegensatz zum gesellschaftlichen Intersubjektiven die innerliche Gewahrwerdung einer sinnkonstitutiven Bestimmung ihres Daseins verleiht.

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  1. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000.
    Und: Walter Jaeschke / Birgit Sandkaulen: Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004.
  2. Die erste vollständige Fassung erschien im Jahr 1776 unter dem Titel Eduard Allwills Papiere periodisch im Teutschen Merkur. Im Jahr zuvor, 1775, gab es bereits eine Veröffentlichung Friedrich Heinrich Jacobis mit dem Titel Eduard Allwills Papiere in der Frauenzeitschrift Iris, die von seinem Bruder Johann Georg Jacobi herausgegeben wurde. Diese erste Fassung umfasst neben einem Schreiben mit dem Titel An den Herausgeber der Iris die ersten vier Briefe samt einer Beilage zum vierten Brief. Drei dieser vier Briefe sind von der Figur Sylli geschrieben und an die Figur Clerdon adressiert. Der vierte Brief ist von Clerdon geschrieben und richtet sich an Sylli. Außerdem ist diesem Schreiben als Beilage ein Brief Eduard Allwills an Clerdon beigefügt. Die so dargestellte Briefkorrespondenz zwischen Sylli und Clerdon problematisiert die verschiedenen Zeitrelationen der brieflichen Kommunikation, was durch die angegebenen Tage der einzelnen Briefe deutlich wird. Außerdem ist bemerkenswert, dass die ›starke‹, hervorgehobene, weibliche Figur der Sylli auf das anvisierte Publikum der Frauenzeitschrift Iris abgestimmt zu sein scheint und diese Figur in den späteren Fassungen aber in diesem ›starken‹ und hervorgehobenen Charakter beibehalten wird, sodass auch diese Fassungen mit Sylli eine ›empfindsame Protagonistin‹ aufweisen.
  3. Das Empfindsam-Idyllische ist ein Merkmalskomplex, der aus wesentlichen Elementen der Idyllen Gessners von 1756 zusammengestellt wird und als eine literarische Repräsentationsform des Idyllischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden wird.
  4. Hella Jäger eröffnet eine solche Betrachtung von Naivität für die Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der literarischen Gattung der Idylle: Hella Jäger: Naivität. Eine kritisch-utopische Kategorie in der bürgerlichen Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Kronberg 1975, S. 130-175.
  5. Es liegt folglich eine Differenzierung narrativer Ebenen vor. Die Rahmung durch den fiktiven Herausgeber wird als metanarrativ geprägte Ebene betrachtet und die herausgegebenen Briefe bilden die Ebene der Erzählung.
  6. Insgesamt fünf Briefe können nicht der Korrespondenz zwischen E*** und C** zugeordnet werden: Die Briefe Nummer neun und zehn sind Briefe von der Titelfigur Allwill an den Bruder von Sylli namens Clemens von Wallberg, der Brief Nummer sechszehn ist ein Brief Allwills an Cläre, eine Cousine Syllis, die Mitglied der Familie in C** um Heinrich Clerdon ist und die Briefe Nummer zwanzig und einundzwanzig stellen eine Briefkorrespondenz zwischen Allwill und Luzie, eine ehemalige Geliebte Allwills, dar. Diese kommunikationsstrukturelle Markierung dieser fünf Briefe verweist auf die Distanz und Außenseiterposition, die die titelgebende Figur Allwill eigentlich hat und weist so auf seine Sonderstellung in der Konstellation der Figuren hin.
  7. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Eduard Allwills Briefsammlung. In: ders.: Werke. Gesamtausgabe. Band 6,1: Romane I: Eduard Allwill. Hrsg. von Carmen Götz und Walter Jaeschke. Hamburg 2006, S. 81-244, hier S. 95. Im Folgenden wird dieses Werk im Fließtext zitiert, indem die Ziffer in der Klammer (), die Seitenangabe der Zitate angibt.
  8. Bemerkenswert ist, dass Sylli bei der Darstellung ihres Tages abrupt den Brief abbricht, als sie zeitlich bei dem Niederschreiben des Briefes angelangt ist. Der Prozess des Erzählens (durch das Schreiben des Briefes) scheint auf diese Weise unter ›unmittelbarer Einwirkung‹ des erfahrenen Erlebnisses zu stehen und daher steht dieses auch im Mittelpunkt ihrer Reflexion.
  9. Helmut J. Schneider schreibt in seinem viel zitierten Artikel Die sanfte Utopie: »Das 18. Jahrhundert besaß einen suggestiven Begriff, in dem die ›Vereinfachung‹ der Welt nicht nur erlaubt, sondern gefordert war: den der Natur. Natur ist die äußere Natur, in ihrer Schönheit und Einfachheit, und sie ist die innere Natur des Menschen, sein wahres Wesen, sein Ursprung und zugleich sein Ziel. Im Blick in die Natur begegnen wir unserem eigentlichen Selbst.«
    Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Idyllen der Deutschen. Hrsg. von Dems. Frankfurt am Main 1978, S. 353-423, hier S. 370.
  10. Klaus Garber hebt diese umakzentuierte Priorisierung im Kontext einer dichotomischen Gegenüberstellung hervor: »D(er) Gessnersche Hirt, mit dem Gleichgesinnten sich zur kleinen Gemeinschaft der Edlen vereinend, ist von seinem Schöpfer zu nichts weniger erkoren, denn als Repräsentant des Menschen schlechthin zu figurieren, der neben seinen rationalen seine emotionalen, neben seinen ästhetischen seine moralischen, neben seinen praktischen seine religiösen Vermögen im Namen der einen Leitinstanz Natur ausgebildet hat und so im Vollbesitz seiner Kräfte daran geht, seiner selbst würdige Verhältnisse zu schaffen, die durch sorgende Teilnahme, durch Mitleid, durch Integration des Schwachen und zuallererst durch uneingeschränkte und ergriffene Verehrung der außermenschlichen, der göttlichen Natur ausgezeichnet sein sollen.«
    Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009, S. 85.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 8. November 2018
 Kategorie: Wissenschaft
 Ausschnitt aus dem offiziellen Plakatentwurf zur Vortragsreihe »Um die Ecke gedacht - Perspektiven geisteswissenschaftlicher Nachwuchsforschung« Öffentlichkeitsarbeitsabteilung der Universität Göttingen im Auftrag der GSGG
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