Mit Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke veröffentlicht Joachim Meyerhoff den dritten Teil seiner autobiographisch geprägten Romanreihe Alle Toten fliegen hoch. Publikum und Presse feierten die ersten beiden Bände des Zyklus als Prachtstücke der Tragikomik. Kann Meyerhoff an diesen Erfolg anknüpfen?
von Julian Ingelmann
Anton Reisers Krankengeschichte gipfelt auf der Bühne. Der Protagonist aus Karl Philipp Moritz’ psychologischem Roman (1785–1790) infiziert sich in jungen Jahren mit den »Leiden der Einbildungskraft«, einer Krankheit, die sich vor allem in einem »mißverstandenen Trieb zur Schauspielkunst« äußert. Moritz möchte zeigen, »daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasieen, als in der Wirklichkeit lebte – das Theater als die eigentliche Phantasieenwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen seyn.«
Joachim Meyerhoff ordnet sich – ohne ihn in die literarische Nähe eines Moritz oder Goethe stellen zu wollen – zwischen Anton Reiser und Wilhelm Meister ein. Die Schauspielkunst steht nicht am Anfang oder am Ende seiner Lebensbeschreibung, sondern im Mittelpunkt. In Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke schildert der heutige Burgschauspieler seine ersten Schritte auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Im dritten Band seines autobiographisch geprägten Romanzyklus‘ Alle Toten fliegen hoch widmet sich Meyerhoff erstmals seinem Lebensthema. Zuvor stellte er in Amerika (2011) die Erlebnisse eines Austauschjahrs dar, dann erzählte er in Wann wird es wieder so, wie es nie war (2013) vom Aufwachsen in der Psychiatrie seines Vaters.
Vom Scheitern als SchauspielerJoachim Meyerhoff ist zwanzig Jahre alt, als er sich für ein Schauspielstudium an der Münchener Otto-Falckenberg-Schule bewirbt. Über den Grund für diese Entscheidung kann er nur mutmaßen: »Vielleicht wollte ich einen Weg einschlagen, der außerhalb all dessen lag, was ich mir zutraute, vielleicht wollte ich etwas versuchen, das das genaue Gegenteil von dem war, was in Betracht kam.« Zu Meyerhoffs Verwunderung begeistert sich die Auswahlkommission für sein Vorsprechen und gewährt ihm einen Studienplatz. Was als klassische Erfolgsstory beginnt, gerät schnell zum Anti-Bildungsroman. Meyerhoff begleitet sich selbst durch die Stationen seines Scheiterns: Er hadert mit dem Gesangsunterricht, verzweifelt am Sprechtraining und fremdelt mit den reformpädagogischen Methoden seiner Improvisationslehrerin. Schnell rutscht der junge Student in eine Sinnkrise, aus der er bis zum Ende seiner Ausbildungszeit zu entkommen versucht.
Meisterlich offenbart Meyerhoff das Verunsicherungspotenzial, das jeder Moment an der Schauspielschule birgt: »Ich begriff«, berichtet der Erzähler, »dass selbst in einer so alltäglichen Verrichtung wie dem Sitzen ein ungeheures Maß an Gelingen und Misslingen stecken konnte.« Es spricht für die schriftstellerische Kunstfertigkeit des Autors, dass er das Elend seines Protagonisten anhand einfacher Alltagsbeobachtungen illustriert. Eine Vorstellungsrunde nimmt der Schauspielanwärter etwa so wahr:
»›Ich heiße … Veronica. Veronica Saalfeld. Ich komme aus Braunschweig und bin gerade neunzehn geworden.‹ Dabei hatte sie gelächelt und den Kopf geschüttelt. Es hatte ausgesehen, als würde sie zu weinen beginnen. In jeder dieser Informationen schien ein Unglück zu wurzeln. Der Vorname: traurig, der Nachname: todtraurig, der Herkunftsort: eine Bürde, ihr Alter: eine Last. Das verstand ich gut. Auch mir offenbarte sich hin und wieder allein beim Aussprechen meines Namens die Abgründigkeit der ganzen Welt.«
In solchen Szenen beweist Meyerhoff, wie bravourös er das Spiel mit erzählter und erzählender Zeit beherrscht. Dennoch scheitert er daran, dem Leser die drei Jahre seiner Schauspielausbildung plastisch vor Augen zu führen. Der Protagonist und seine Kommilitonen sind merkwürdig statisch. Es entwickeln sich keine Beziehungen zwischen den Charakteren, das Schauspieltalent des Erzählers entfaltet sich nur ansatzweise, seine Motivation zum Studium und seine Eignung für das Fach bleiben nebulös. Während Meyerhoff als Schauspieler scheitert, versagen seine Studienkollegen als Romanfiguren: Schon bei ihrer Einführung sind sie nur eine Verbindung aus einem Namen und einer Eigenschaft; bis zum Ende des Buchs bleiben sie blasse, auf Ein-Wort-Beschreibungen reduzierte Typen.
Eine ungewöhnliche WGAch, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke wäre eine Enttäuschung, wenn Meyerhoff sich auf eine Beschreibung seiner Schauspielausbildung beschränkte. Seine Leser können sich glücklich schätzen, dass der Münchener Wohnungsmarkt schon Ende der 80er-Jahre umkämpft war. Dieser Umstand zwingt den Protagonisten nämlich, in die Villa seiner Großeltern einzuziehen. Meyerhoff bekommt dadurch die Gelegenheit, seinen Roman mit zwei Figuren zu bevölkern, die Stoff für unterhaltsame Anekdoten bieten. Während seine Kommilitonen in der Eindimensionalität verharren, gelingt es Meyerhoff, seine Verwandten als vielschichtige Charaktere zu komponieren.
Augenzwinkernd, aber liebevoll berichtet er von den Kauzigkeiten seiner Großeltern. Seine Großmutter, eine ehemalige Schauspielerin, charakterisiert er als sympathische Diva. Ihren Hang zum Theatralischen hat sie von der Bühne in den Alltag transportiert. Ihr Mann, der Großvater des Erzählers, lebt hingegen als Stoiker. Der emeritierte Professor der Philosophie mag Traditionen und Rituale. Er genießt es, sein Leben in Listen zu strukturieren. Zusammen versuchen die beiden, alles beim Alten zu belassen. Der »zentrale Kern ihres Daseins« besteht laut Meyerhoff darin, »Überraschungen zu vermeiden«. Dabei hilft ihnen der allgegenwärtige Alkohol – die morgendliche Tablettendosis spülen sie mit Champagner herunter.
Bei der Beschreibung der ungewöhnlichen Studenten-WG spielt auch das Alter der Großeltern eine wiederkehrende Rolle. Meyerhoff klagt jedoch nicht über den körperlichen und geistigen Verfall, sondern kleidet seine Beobachtungen in Humor. Seine Pointen bereitet er ausführlich vor, seine Witze zünden mit erstaunlicher Präzision. Das zeigt sich besonders in den sparsam eingesetzten Dialogen, mit denen der Autor die Figuren vor den Augen seines Lesers entstehen lässt:
Durch ihr jahrzehntelanges Zusammenleben kam es immer öfter vor, dass sich Fragen und Antworten, einzelne Satzelemente aus der logischen zeitlichen Abfolge lösten und über- und untereinander-, ja sogar aneinander vorbeischoben. Meine Großmutter wusste so genau, wann mein Großvater eine bestimmte Frage stellen würde, dass sie in Momenten der Unachtsamkeit einen Hauch zu früh antwortete. Mein Großvater wollte fragen: ›Wo hab ich bloß meine Brille?‹ Aber schon bei ›Wo hab …‹, rief meine Großmutter ›Na wo wohl? Da wo sie immer ist …‹ dazwischen. Er: ›ich bloß meine‹. Sie: ›auf der Fensterbank!‹ Er: ›Brille?‹
Wie die Aussagen im Dialog seiner Großeltern verschwimmen auch die Schauplätze des Romans miteinander. Der Protagonist bewegt sich mühelos zwischen beiden Welten und führt sie schließlich zusammen: In seinem ersten Film tritt er an der Seite seiner Großmutter auf. Meyerhoff schafft nicht nur den Spagat zwischen Schauspielschule und Großelternvilla, sondern auch zwischen zwei Textgattungen: Tragödie und Komödie verbinden sich zu einem harmonischen Ganzen. Im humorvollen Konversationston berichtet Meyerhoff von Schicksalschlägen, hinter jedem Witz verbirgt sich schon die nächste Katastrophe. Auch wenn die Themen oft abgründig sind: Jeder Zeile dieses Romans merkt man Meyerhoffs Spaß am Erzählen an – ein Spaß, der sich mühelos auf den Leser überträgt.