Triggerwarnung: Erwähnungen von Krieg, Genozid und antimuslimischem Rassismus
Was tun, wenn eine Freundin nach zwölf Jahren anruft, um durch Europa gefahren zu werden? Stimmst du einem Roadtrip zu, der dich zurück in dein verhasstes Heimatland und zu einer komplizierten Freundschaft führt? Lana Bastašić schreibt über eine Reise voller Hoffnung und Schmerz.
Von Lilly Krka
»von vorne anfangen«. Mitten im Satz beginnt der Roman Fang den Hasen von Lana Bastašić, wohl genauso unmittelbar wie der Anruf, den die Protagonistin erhält. Ganz unerwartet wird die heile Welt erschüttert, die sich Sara aufgebaut hat. Ihr neues Leben ist in Dublin: Ihr Freund Michael, die Arbeit, ihr Avocadobaum und die Schallplatten – alles ist ganz weit weg von Bosnien und hat so wenig wie möglich mit ihrem alten Leben dort zu tun. Dann hört sie unvermittelt die Stimme ihrer ehemals besten Freundin Lejla, die sich seit zwölf Jahren nicht mehr gemeldet hat. Auf einmal hört sie wieder ihre Muttersprache, die sie jahrelang versucht hat zu vergessen, und ist auch noch gezwungen, auf Bosnisch zu antworten.
»Sara, hör mir zu. Bitte«, sagt [Lejla] leise. Saro. Mein Name, deformiert durch den Vokativ, den ich vergessen habe, klingt wie ein Echo in einem verlassenen Brunnen.
Was folgt, ist ein Roadtrip von Mostar nach Wien, eine Geschichte vom Schweigen und Lügen.
Das Ziel der Reise: Lejlas Bruder Armin finden, der im Krieg verschwunden ist und jetzt plötzlich in Wien aufgetaucht sein soll. Für Sara ist er auch ihre große Jugendliebe, doch das bleibt zwischen den Freundinnen lieber unausgesprochen. Abwechselnd springt die Erzählung zwischen der Kindheit und Jugend der beiden Freundinnen in Banja Luka und der Gegenwart im weißen Opel Astra. So erfährt der:die Leser:in, wie Sara und Lejla sich kennengelernt haben, wie Sara sich in Armin verliebt hat, wie der Krieg in ihrer Heimatstadt Einzug hielt, wie Armin verschwand. Dass der Roman im Prolog mit einem Zitat aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland beginnt, verrät, wie die Reise nach Bosnien sich für Sara anfühlt: als würde sie in eine dunkle, verrückte Welt eintauchen. Sogar der Hase fehlt in Bastašićs Roman nicht.
Zwischen Freundschaft und NeidSaras Freundschaft zu Lejla ist längst nicht so perfekt, wie Kinderfreundschaften oft in Erinnerung bleiben. Die Autorin beschreibt schmerzhaft das Gefühl der Unzulänglichkeit und der Unsicherheit des jungen Mädchens Sara. Sie verzehrt sich nach der Anerkennung ihrer ›cooleren‹ Freundin Lejla und ist ihr gegenüber voller Neid. Gleichzeitig merkt der:die Leser:in, dass die beiden auf eine natürliche Weise zusammengehören, als gäbe es auf der Welt nur die zwei Freundinnen. Immer wieder verwendet Sara die Phrasen »wir waren du und ich« und »der untrennbare Ausdruck Lejla und ich«.
Seit dem ersten Tag der Grundschule sind sie unzertrennlich, sie studieren auch gemeinsam, obwohl es scheint, als würde Lejla es nur tun, um Sara weiter nah zu bleiben. Im Laufe des Romans gewinnt das Gefühl immer mehr an Gewicht, der Text sei von Sara nur für Lejla bestimmt. Ganz intim fühlen sich die Worte Saras an; als dürfe eigentlich nur Lejla sie lesen und man selbst habe die Seiten zufällig auf der Straße gefunden, nachdem sie dem Mädchen aus der Tasche gerutscht sind.
In Finsternis getauchtSaras Beschreibungen Bosniens sind brutal und tun ebenso weh wie das, was sie über ihre Freundschaft zu Lejla zu erzählen hat. In den Augen der Protagonistin ist das Land wie von Dunkelheit und Schmutz überzogen, wie ein Virus, der durch die Sprache übertragen wird. Sie sieht zwei Leben, die nicht miteinander vereinbar sind: das frühere in Banja Luka und das jetzige in Dublin. Bei einer Rückkehr nach Bosnien, so fürchtet sie, würde sich alles in Dublin auflösen, als habe es nie existiert. Der Krieg wird Sara während ihrer Kindheit hauptsächlich an den Unterschieden zwischen ihrer und Lejlas Familie bewusst. Saras Vater ist der Polizei-Hauptmann, sie ist halbwegs serbisch-orthodox und wird heimlich noch schnell getauft. Doch Lejla
Für Sara bedeutet der Verlust des ›j‹ in dem Namen ihrer Freundin eine Spaltung, plötzlich existieren zwei Versionen von Le(j)la. Der größere Verlust jedoch ist der Lejlas größeren Bruders Armin – er verschwindet spurlos in der Dunkelheit. Es scheint, als habe die Finsternis in Bosnien für Sara nichts mit den Sonnenzeiten zu tun, sondern als wäre sie allein durch Armins Verschwinden ausgelöst. Saras heimliche Liebe ist fort und alles ist dunkel – hoffnungslos. Ob er oder Lejla der Mittelpunkt in Saras Leben ist, wird nicht klar. Mag sie Lejla womöglich nur wegen Armin, oder ist sie in Armin verliebt, nur weil er ein Teil von Lejla ist? Obwohl Armin das große Ziel der Reise und des Romans ist, wirkt er die ganze Zeit unerreichbar. Dieser Schimmer Licht umgeben von Finsternis. Der:die Leser:in spürt die Unsicherheit und den Unglauben Saras. Dass die Freundinnen sich während der Fahrt kein einziges Mal trauen, über ihn zu reden, lässt Armin in Wien wie ein irreales Phantom wirken. Deshalb kommt beim Lesen immer wieder das Gefühl auf, dass Armin nicht gefunden werden kann, dass es kein Ende für die Suche und damit auch für das Buch gibt – aber vielleicht möchte man auch einfach nicht, dass es endet.
Verschwommene ErinnerungenDie Erinnerungen Saras wirken zu Anfang glasklar, doch mit dem Wiedersehen der beiden Freundinnen wird sie sich immer unsicherer, ob ihr Gedächtnis alles richtig behalten hat. Bis Lejla schließlich alles sprengt und sie mit der Unwahrheit ihrer Erinnerungen konfrontiert. Bastašić nutzt in ihren Erzählungen auffällig viele Metaphern und Vergleiche. Was zunächst übertrieben wirken kann, verdeutlicht das Unbeschreibliche der Kriegserlebnisse, der besonderen Freundschaft und der Gefühle Saras Bosnien gegenüber. Eindrucksvoll beschreibt Bastašić Saras Gefühl, ihr Leben in Dublin würde durch jede Erinnerung, jeden Kontakt mit ihrem Leben in Bosnien in Gefahr gebracht werden:
Ich konnte [Lejla] sehen, wie sie dort auf Michaels Parkettboden saß und abschätzig lächelnd ihren Blick auf meine Dubliner Phase warf. Sie würde nicht mal etwas sagen, nur mit den Augen würde sie mir Europa ausziehen wie einer Neureichen den Pelzmantel und die Narben des Balkans schamlos an die Öffentlichkeit zerren.
Saras Bindung zu Dublin und ihrem Freund Michael wird mit einem Band verglichen, das sich ausdehnen kann. Jedoch nicht bis nach Bosnien, hier drohe es, sich aufzulösen. Das Gefühl Saras zu Bosnien wird durchweg mit einer starken Finsternis beschrieben, die Sara durchdringt und beschmutzt: »Ich fürchtete mich vor dem Schaden, den diese Teilchen der Dunkelheit in mir anrichten konnten, wenn sie einmal meine Lunge gefüllt hatten und in meinen Blutkreislauf gelangt waren. Meine Adern waren zu lange sauber gewesen, sie würden nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollten.« Vor allem eines schafft Lana Bastašić mit ihrem Roman: Sie zeigt, dass man die Hoffnung nicht aufgeben sollte, egal wie dunkel es um einen herum ist. Sara und Lejlas Verbindung ist ein Beispiel dafür, wie stark eine Freundschaft trotz jedem Schmerz sein kann.