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Erbe ausgeschlagen?

Vom 28. bis 30. Januar lud Günter Grass auch in diesem Jahr wieder ausgewählte Autoren zum Lübecker Literaturtreffen ein, um über dies und das zu debattieren. Mit einer Neuauflage der berühmt berüchtigten Gruppe 47 hat das Lübecker Literaturtreffen nichts zu tun. Aber wofür stehen die Autoren?

Von Sabrina Wagner

Zum sechsten Mal hat Günter Grass in diesem Jahr zum Lübecker Literaturtreffen geladen. Neun Autoren sind angereist, so viele wie noch nie; Altbekannte und weniger Bekannte, manche zum ersten, einige bereits zum sechsten Mal: Sherko Fatah, Olga Flor, Eleonora Hummel, Eva Menasse, Norbert Niemann, Knud Romer, Fridolin Schley, Jens Sparschuh und Tilman Spengler.

Als Günter Grass 2005 das Lübecker Literaturtreffen ins Leben rief, war für viele Beobachter der Bogen zur Gruppe 47 leicht gespannt. Gerade war Grass wieder lautstark für den Wahlkampf der SPD eingetreten und hatte in diesem Jahr auch unter den jüngeren Schriftstellerkollegen einige Unterstützer gefunden. Dass sich die Gründungsmitglieder des Literaturtreffens im Dezember zu einem großen Teil aus diesen Mitstreitern rekrutierten, ließ Mutmaßungen über einen bedeutenden Plan, den Grass mit der Gründung verfolgte, laut werden. Schnell wurde der etwas sperrige Name durch griffigere wie »Lübeck 05« oder auch »Gruppe 05« ersetzt. Man hörte etwas rumoren in der Literaturlandschaft, das dem häufig vorgebrachten Vorwurf der Bedeutungs- und Belanglosigkeit der Gegenwartsliteratur entgegentreten könnte.

Doch von Beginn an betonte der Initiator, das Treffen solle keine Neuauflage der Gruppe 47 sein. Vielmehr ginge es darum, der gegenwärtigen »Verstreuung der Autoren« (FAZ 2005) entgegen zu wirken. Ein kollegialer Austausch in Form eines Werkstattgesprächs solle es sein. Man treffe sich, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit, d. h. insbesondere ohne die verhassten »Berufskritiker«, die dagegen zu den Treffen der Gruppe 47 zugelassen waren, über die aktuellen Arbeiten zu sprechen. Eine weitere Unterscheidung sei, so Grass in einem Interview in der ZEIT 2005, dass, anders als es das Gebot Hans Werner Richters für die Treffen der Gruppe 47 ausschloss, in den Lübecker Gesprächen auch von Politik die Rede sein könne und dürfe. Es gehe ihm darum, das »Bedürfnis nach politischer Einmischung« in den ihm nachfolgenden Schriftstellergenerationen wach zu halten.

Vom 28. bis 30. Januar trafen sich die zehn Autoren also auch in diesem Jahr im Lübecker Günter-Grass-Haus, um über dies und das zu debattieren. Wie in den letzten Jahren war am ersten Abend die Öffentlichkeit eingeladen, der Lesung teils veröffentlichter, teils unveröffentlichter Texte der Autoren zu lauschen und vielleicht ein wenig Geheimes über das vorausgegangene Arbeitstreffen zu erfahren.

Zahlreich sind sie gekommen – die Lübecker Bildungsbürger im besten Ruhestandsalter mit dem guten Willen zu maßvoller kultureller Erbauung an diesem Freitagabend. Unter den rund 100 Gästen ließen sich nur wenige jüngere, geschweige denn Vertreter der studentischen Generation ausmachen. So bot die Kulisse – die wunderschöne Diele des Kunstmuseums Behnhaus, einem der repräsentativsten klassizistischen Bürgerhäuser in der Lübecker Königsstraße – das Übrige an besten Voraussetzungen für einen gebildeten Wohlfühlabend.

Der Lesungen erster Teil

Kurz nach 20 Uhr betreten die ersten fünf Autoren das Podium und gruppieren sich um Jörg-Dieter Kogel, Programmleitung Nordwestradio (Radio Bremen und NDR), der den Abend moderieren wird.

Die Lesung beginnt mit Eva Menasse (Jahrgang 1970), die bekannt ist für kritische Kommentierungen des Zeitgeschehens. An diesem Abend liest die gebürtige Österreicherin und Wahlberlinerin aus ihrem Essay Unter Piefkes über die Leiden in Deutschland lebender »Ösis«. Es durfte gelacht werden – das tat das Publikum auch dankend. Schade, dass Menasse aus ihrem Repertoire großartiger Essays ausgerechnet diesen bedeutungslosen Text ausgewählt hat; aber vielleicht wollte sie sich auch nur nicht »wichtig machen«, wie »ihre Freundin Zeh immer sagt«.

Norbert Niemann (Jahrgang 1961) umreißt in Textausschnitten aus den Essays Keine Lust auf Untergang und Auf dem Drahtseil, nicht ohne Selbstironie, die Schwierigkeiten des Schreibens als Kunstform in einer Zeit, in der Literatur allein nach ihrem Marktwert beurteilt werde, beschreibt die Qualen eines Schriftstellers, für den »Schreiben eine Lebensform« und dem somit »das Liebste« immer auch »das Entsetzliche« sei. Gern wäre man den Ausführungen länger gefolgt, doch für jeden Autor waren nur zehn Minuten vorgesehen.

Es solle mal Einer sagen, die Literatur könne die Welt nicht verändern, beginnt Jens Sparschuh (Jahrgang 1955) seinen Vortrag und bezieht sich damit auf ein 2009 veröffentlichtes Gespräch zwischen ihm und dem Kollegen Sten Nadolny über ihre Militärdienstzeit in Ost und West. Damals hätten beide bereits kritisch über die Wehrpflicht debattiert und jetzt, man staune, nur wenig mehr als ein Jahr später, werde dieselbe in Deutschland tatsächlich abgeschafft. Zynismus will ihm da im Publikum niemand unterstellen. Sparschuh liest aus seinem 2007 erschienenen Roman Schwarze Dame.

Eleonora Hummel (Jahrgang 1970) berichtet, sie habe im Werkstattgespräch am Nachmittag aus ihrer aktuellen Arbeit gelesen und mit den Kollegen debattiert, an welcher Stelle im noch unveröffentlichten Roman das vorgestellte Kapitel am besten stehen solle. Der Zuhörer an diesem Abend kann sich dazu kaum eine Meinung bilden, der Zusammenhang erschließt sich mitnichten, leider sorgt auch keine herausragende sprachliche Eigenheit des Gelesenen für einen bleibenden Eindruck.

Sherko Fatah (Jahrgang 1964), der in diesem Jahr zum ersten Mal in Lübeck dabei sein durfte, liest aus seinem Romanmanuskript Ein weißes Land. Mit vor Erzählkraft sprühender Sprache malt er ein eindringliches Bild von Fremdheit, Heimat, Angst, Verbrüderung, Verfolgung in einem Leben zwischen den Welten unterschiedlicher Kulturen. Schade, dass ausgerechnet dieser Text nur sehr zurückhaltenden Applaus bekommt.

Harmonie unter deutschen Literaten

Im Anschluss an die ersten Lesungen sind die Autoren gefragt, von ihren Erfahrungen aus dem vorangegangenen Arbeitstreffen zu berichten. Unisono ist die Antwort, wie kollegial es in den Gesprächen zugehe, wie wichtig der Austausch mit den Kollegen für die eigene Arbeit sei, und wie angenehm es sei, dass man unter sich bleibe, allein in einer Runde, in der man verstanden werde, da alle wissen, was es heißt zu schreiben, keiner, der respektlos die mühevolle Arbeit zerreiße, in etwa so, wie es die zähnefletschenden Kritiker tun, die in einem nur kurzen, dahin geworfenen Text zerreißen, woran man Jahre lang gearbeitet habe.

Lübecker Literaturtreffen

Am 05. Dezember 2005 lud Günter Grass erstmalig zum Lübecker Literaturtreffen. Einmal im Jahr treffen sich seitdem ausgewählte Autoren in Lübeck, um über Literatur zu reden. Kurzinformationen zum Lübecker Literaturtreffen 2011 und allen anwesenden Autoren gibt es hier.
 
 
Das Publikum nimmt das verständnisvoll nickend auf. Kein Räuspern nirgendwo. Ist denn kein Kritiker im Saal, der sich nun herausgefordert fühlt? Nicht nur, dass sie von den Werkstattgesprächen selbst ausgeschlossen wurden, es scheint auch gelungen, das Interesse der Kritiker an dieser Literaturgruppe vollständig zu zerstreuen. Sollte das die Autoren nun beruhigen? Will sich denn da niemand zur Frage nach der eventuellen eigenen Bedeutungslosigkeit hinreißen lassen? Gehört nicht dieser ureigene Kampf zwischen Literatur und Kritik untrennbar zur eigenen Rolle?

Schwierige Fragen, die – offensichtlich zur Beruhigung aller – niemand stellt, Fragen aus dem Publikum sind hier nicht vorgesehen. Bevor es doch noch dazu kommen könnte, stürmen alle in die Pause. Im Foyer gibt es Wein und Häppchen. Und weil Autoren und Zuhörer sich erst einmal erholen müssen, werden aus den angekündigten zehn ganz schnell dreißig Minuten Unterbrechung. Keiner mag so recht den Weg in den Saal zurückfinden. Erst die Durchsage des Moderators, man möge doch allmählich wieder Platz nehmen, sonst komme man womöglich erst um halb zwölf nach Hause, bewirkt schleppende Einsicht. Die zweite Runde kann beginnen, und die nächsten fünf Autoren, diesmal dabei auch Günter Grass, nehmen auf dem Podium Platz.

Der Lesungen zweiter Teil

Der zweite Teil beginnt mit Knud Romer (Jahrgang 1960), einem gebürtigen Dänen, der in Deutschland 2007 mit seinem Roman Wer blinzelt hat Angst vor dem Tod bekannt wurde. Romers neuer Roman Die Paradieskarte wird die Geschichte vom Sohn einer amerikanischen Diplomatenfamilie in den 1970er Jahren erzählen. Was Romer in der Vorbemerkung zu seiner Lesung eine Probefahrt mit dem neuen Auto nannte, ist für alle ohne nennenswerte Pannen geglückt.

Anschließend darf wieder einer der Altbekannten ans Lesepult treten. Tilman Spengler (Jahrgang 1947), Gründungsmitglied des Lübecker Literaturtreffens amüsiert sich über die immer wiederkehrende Verwechslung von Autor und Erzähler in fiktiven Texten. Zur großen Unterhaltung des Publikums liest er einige Anekdoten aus seinem 2009 erschienen Erzählband Sind Sie öfter hier? Von der Kunst, ein kluges Gespräch zu führen.

Olga Flor (Jahrgang 1968), wie Sherko Fatah zum ersten Mal im erlauchten Kreis in Lübeck dabei, will die Zuhörer, wie sie sagt, in ihrem neuen Roman 60 Minuten in einen Supermarkt mitnehmen. Glücklicherweise sind es an diesem Abend nur zehn Minuten, in denen Flor mit sich überschlagender Stimme ausgewählte Abschnitte vorliest. Der Kopf schwirrt und man fragt sich, ob nicht eine Stunde im realen Supermarkt genug des alltäglichen Wahnsinns ist oder ob man das tatsächlich in diesem Roman nachlesen sollte.

Weit unaufgeregter ist der Auftritt Fridolin Schleys (1976), des jüngsten unter den diesjährigen Teilnehmern. Er liest seine bisher unveröffentlichte Erzählung Im Schwitzkasten: Bekannte Großstadtbeschreibung und dann – endlich mal wieder – ein Stück Erinnerungsliteratur der Enkel, als der Held der Erzählung auf einen Holocaustüberlebenden trifft. »Klassensprecherliteratur« hat das die Literaturkritik einmal genannt: Es ist ein guter Text – nur klingt es so bekannt, schon einmal irgendwo so oder zumindest so ähnlich gehört und gerade deshalb schnell wieder vergessen.

Und dann endlich darf der Gastgeber des Abends lesen. »Es ist spät geworden, meine Damen und Herren«, beginnt Günter Grass und klingt dabei so müde, dass man hinter den Worten mehr zu hören glaubt als allein den Hinweis auf die vorangeschrittene Uhrzeit. Das Publikum hört Kapitel fünf, »E«, aus dem im letzten Jahr erschienenen Band Grimms Wörter. Auch wenn sicher die meisten der Anwesenden das Buch bereits gelesen haben, ist es schön, die Worte aus dem Mund des Meisters zu hören.

Ein Preis gegen das Vergessen

Schließlich ist es nicht nur spät, sondern auch kalt geworden im Lübecker Behnhaus; Pelzmäntel wurden schon über Schultern gelegt, da verkündet der Moderator, man würde im Einverständnis mit den Autoren aufgrund der späten Stunde auf die Schlussdiskussion verzichten. Damit war nun endgültig jede Erwartung zerstört, dieses Treffen würde noch irgendetwas Unbequemes, gar Kontroverses hervorbringen. Oder vielleicht doch? Der Gastgeber des Abends hat schließlich das letzte Wort. Doch wer jetzt noch Hoffnung auf ein paar streitbare, energische Worte in bester Grass-Manier hatte, sollte auch in diesem Fall enttäuscht werden.

Günter Grass verkündet stolz, wenn auch mit auffallend matter Stimme, dass sein Autorenzirkel ab diesem Jahr und fortan im Zweijahresturnus im Wechsel mit dem Lübecker Thomas-Mann-Preis einen neuen Preis »Von Autoren für Autoren« verleihe. Die Auszeichnung richte sich gegen das Vergessen bedeutender Literatur in einer Zeit der Schnelllebigkeit, in der nur noch das Allerneueste für eine immer kürzere Zeit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewinnen könne. Das damit einhergehende Vergessen vieler Autoren könne sich gerade Deutschland nicht leisten, nachdem durch den Nationalsozialismus bereits einmal eine literarische Tradition unterbrochen worden sei und zahlreiche Autoren danach nur schwer bzw. gar nicht ins Gedächtnis zurückgekehrt seien. Eine literarische Tradition sei wichtig, damit gerade die jüngeren Autoren einen Anknüpfungspunkt fänden, schließlich sei noch kein Schriftsteller »vom Himmel gefallen«. Am Sonntag erhielt der 78jährige Allgäuer Autor Günter Herburger als Erster die mit 7.500 Euro dotierte Auszeichnung für sein Lebenswerk.

Welche Gründe die Autoren im Einzelnen zu dieser Wahl bewegt haben, wird verborgen bleiben. Ebenso wenig werden wir wohl erfahren, wie die zweitägigen Werkstattgespräche im Einzelnen verlaufen sind. Es bleibt zu hoffen, dass es vielleicht nicht ganz so einstimmig und einträchtig zugegangen ist, wie die Autoren zu erklären bemüht waren. Sicher erscheint an diesem Abend aber auch dem letzten Zweifler, dass dieses Lübecker Literaturtreffen mit der Gruppe 47 so gar nichts zu tun hat. Aber letztlich muss es das ja auch nicht. So lässt sich die Gruppe 47 auch nur aus ihrer Zeit heraus erklären, die Voraussetzungen für die Literatur, ihre Aufgaben und die Herausforderungen an sie haben sich verändert. Aber dennoch oder gerade deswegen müssen die Autoren die Frage beantworten, wofür sie eigentlich stehen. Ob das jährliche Treffen als reines Werkstattgespräch, als ein Arbeitstreffen unter Kollegen sich selbst genügt, oder ob man die Zusammenkunft nutzt, um gemeinsame Positionen zu formulieren gegebenenfalls ein gemeinsames Programm zu vertreten, darüber sollten die Autoren Klarheit schaffen und Stellung beziehen.

Günter Grass hatte im Gründungsjahr der Gruppe erklärt, es ginge ihm darum, das Empfinden dafür wach zu halten, dass sich Schriftsteller auch heute kritisch in politische und gesellschaftliche Diskurse einmischen müssten. Er wolle, dass das, was er mit seiner Generation über Jahrzehnte praktiziert habe, »sich politisch einzumischen« (ZEIT 2005), auch in Zukunft nicht abreiße. Mit dem Lübecker Literaturtreffen gehe es ihm darum, den »Stafettenstab« allmählich zu übergeben. Inwieweit er damit Erfolg haben wird, werden die nachfolgenden Autorengenerationen zeigen müssen. Noch scheint offen, ob sie gewillt sind, dieses Erbe anzutreten. Sollten sie es bei Auftritten wie der Lesung an diesem Freitagabend belassen, ist ihnen nur zu wünschen, dass sie vielleicht selber einmal Träger des Preises »Von Autoren für Autoren« werden, um dem Vergessen in der Bedeutungslosigkeit zu entgehen.



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 Veröffentlicht am 2. Februar 2011
 Das Foto zeigt das Günter-Grass-Haus in Lübeck, wo das Lübecker Literaturtreffen stattfand. Foto von MrsMyerDE via Wikimedia Commons
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Kommentare
 Wartin Malser
 8. Februar 2011, 13:41 Uhr

Wer will denn schon Grass’ schmuddeligen Stafettenstab?

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