Juli Zehs neuer Roman Neujahr überzeugt mit einer stark unzuverlässigen Hauptfigur: Über Henning, einem Verlagslektor aus Göttingen, bricht ein traumatisierendes Erlebnis herein.
Von Stefan Walfort
Sie tut es schon wieder: in einem Tempo, in dem gewöhnliche Leute Kirschkerne ausspucken, spuckt Juli Zeh neue Prosa, und von was für einer Qualität! Gerade ein Jahr ist es her, gefühlt wenige Wochen, da erschien der Roman Leere Herzen – 350 Seiten exzellente Erzählkunst über eine als Heilpraktiker-Praxis getarnte Agentur, die Suizid-Attentäter ausbildet. Nun sind heuer erneut knapp 200 Seiten eingetütet, und unübersehbar hat die Autorin noch einmal ordentlich am Feinschliff getüftelt.
Nichts an Neujahr ist vorhersehbar. Alles wird durch die Unzuverlässigkeit einer in ihren Grundfesten erschütterten Hauptfigur infrage gestellt. Zusätzlich schickt die Erzählinstanz die Leser*innen auf vielerlei falsche Fährten. Mitunter schnürt es einem beim Lesen die Kehle zu, derart bedrückend ist das, was über die Hauptfigur namens Henning zu erfahren ist. Dabei beginnt alles so scheinbar harmlos: Henning ist Vater zweier Kleinkinder. Während eines Familienurlaubs auf Lanzarote reißt er sich ein paar Stunden lang für eine Fahrradtour von den Liebsten los. Es reizt ihn, das Gebirge von Femés zu bezwingen. Auch hat er es bitter nötig, Stress abzubauen. Er powert sich aus bis zur totalen Erschöpfung – so lange, bis er vorerst nicht weiterkommt: »Das Fahrrad verwandelt sich in eine Treppe mit zu hohen Stufen«.
Unterdessen kreisen Hennings Gedanken um seine Lebensgefährtin Theresa. Dank ihrer Arbeit in einem Steuerbüro kann sie von einem üppigeren Einkommen mehr Geld für die Haushaltskasse abschöpfen als er. Ihn plagt daher ein schlechtes Gewissen. Sein Halbtagsjob als Verlagslektor in Göttingen ist weit weniger ertragreich und nur schwer mit allen Vaterpflichten zu vereinbaren. Immer öfter fühlt Henning sich überfordert. Panikattacken überfallen ihn. Manchmal rechnet er damit, dass er jeden Moment tot zusammenklappen wird, mal am Tag, mal in der Nacht, einfach komplett unberechenbar. Ob er Theresa damit auf den Wecker geht? Jedenfalls vermutet er das. Vielleicht ist genau das der Grund, warum sie in letzter Zeit keine Streicheleinheiten zulässt. Dafür hat sie gestern, an Silvester, umso leidenschaftlicher mit einem Franzosen getanzt und geflirtet. Dennoch hofft Henning, mit etwas gutem Willen die Wogen glätten zu können, auch wenn er befürchtet, dass nach dem Urlaub erst einmal zusätzlicher Ärger auf ihn zukommt: Er fürchtet »einen wachsenden Berg an Arbeit, den er vor sich herschiebt, weil die Zeit trotz nächtlicher Überstunden niemals reicht, um mit den Dingen Schritt zu halten. […] Nach dem Urlaub wird es besonders schlimm werden. Den Rückstand von zwei weiteren Wochen holt er niemals auf«.
So weit, so ungut. Es gibt ein paar Probleme, doch die scheinen nicht weiter gravierend zu sein. Da bricht plötzlich ein traumatisierendes Unglück herein. Von nun an trägt die streng an Henning gebundene Erzählperspektive alles dazu bei, die Leser*innen zu verunsichern. Zwei Kinder schweben in großer Not, und wenn Kindern Schlimmes zuzustoßen droht, fiebern die meisten Menschen besonders empathisch mit, hoffend, dass alles einen günstigen Ausgang findet. So viel wusste schon Adalbert Stifter, als er 1845 seine berühmte Novelle Bergkristall schrieb. Darin geraten zwei Geschwisterchen in einen fürchterlichen Schneesturm. Inmitten steiler und vereister Abhänge verirren sie sich. Jeden Augenblick könnten sie abstürzen. Dank eines Suchtrupps, zu dem sich Bewohner zweier benachbarter und bis dato verfeindeter Dörfer zusammenschließen, gelingt es schließlich, die Kinder wohlbehalten ins Tal zurückzubringen. Auch wenn sich das Blatt also zum Guten wendet, ist dennoch, wie Claudia Öhlschläger in einem Artikel über Bergkristall im Stifter-Handbuch hervorhebt, durch »die Feindschaft zwischen den Dörfern« und eine »den Menschen gefährdende apokalyptische Dimension des Schneefalls und des Eises« sämtliche Idyllik als »äußerst störanfällig« entblößt worden.
Laut Öhlschläger interpretieren Teile der Forschung einen nach der Rettungsaktion beschlossenen Frieden zwischen den Streithähnen als »Beginn einer neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ära«. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die Dorfbewohner ihren bisherigen Hass auf die Nachbarn stets mit einer für unüberbrückbar gehaltenen Opposition rechtfertigten – zwischen einem antimodernen Lebensstil, den die Bewohner auf der einen Seite der Dorfgrenze pflegten und verbissen als einzig richtigen verteidigten, sowie einem modernen drüben auf der anderen Seite: Während man sich diesseits der Grenze beispielsweise an »Herkömmlichkeiten und Väterweise« klammerte, nahm man drüben bei der Arbeit ganz selbstverständlich Maschinen zur Hand, was diesseits als »etwas Unerhörtes« galt. An einem Bergkristall nicht unähnlichen Sujet veranschaulicht Juli Zeh, wie wenig auch in der neuen Ära, in der sich allerorten die kapitalistische Wirtschaftsweise durchgesetzt hat und in der daher die Widersprüche zwischen den bei Stifter kontrastierten Lebensstilen aufgehoben scheinen, an Friede, Freude, Eierkuchen herrscht.
Viele Momente in Neujahr lösen blanke Wut aus – auf die Eltern, weil die nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu schützen, auf eine Ich-Bezogenheit, die ihresgleichen sucht, und besonders auch auf Horrorgeschichten, mit denen die Eltern ihre Kleinen zutiefst verunsichert haben. Jetzt, in akuter Gefahr, entfaltet das in den Köpfen der Kinder eine fatale Dynamik. Wildeste Fantasien schießen ins Kraut und Schlussfolgerungen, durch die sie ihr Leben zusätzlich aufs Spiel setzen. Nur ab und zu mengt die Erzählinstanz eine Prise Komik hinzu, und bevor am Ende alles in ganz anderem Licht erscheint, sei die Leser*in vor erhöhtem Herzinfarktrisiko gewarnt.
Das Bedürfnis, innezuhaltenEin rascher Wechsel zwischen Rückblenden und einer vom Grausigen überfallenen Gegenwart erzeugt das Gefühl, gemeinsam mit Henning um Atem ringen zu müssen. Den Lesefluss drängt es unterdessen konsequent vorwärts. Rasend ziehen die Zeilen vorüber – eigentlich viel zu zügig, um all das Unerhörte sacken zu lassen. Umso größer ist im Nachhinein das Bedürfnis, innezuhalten, die eigene Lebenswelt mit dem Gelesenen abzugleichen, sich zu fragen, wie viel davon zur Alltagsrealität mancher Kinder gehört. Gibt es nicht in der realen Welt Fälle von noch schlimmerem Ausmaß? Neujahr nötigt förmlich zum erneuten, diesmal distanzierteren Lesen.
Zu Recht wird Juli Zeh regelmäßig mit Preisen überhäuft. Mit Neujahr stellt sie dies erneut unter Beweis. Schade nur, dass der Roman 2018 nicht für die Vergabe des Deutschen Buchpreises nominiert war. Doch wer weiß, ob die Autorin nicht bald schon wieder mit einer Neuerscheinung winkt. Zuzutrauen ist es ihr ohne Weiteres.