Die haitianische Autorin Yanick Lahens ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Literatinnen ihres Landes. Im Rotpunktverlag erschien 2012 ihr aktuellster Roman Morgenröte in deutscher Übersetzung. Die Autorin zeichnet darin ein ungeschöntes Bild vom Alltag in einem repressiven System.
Von Isabel Keinert
Haiti, eine Republik in der fernen Karibik. Ein Land, das vor wenigen Jahren von Erdbeben erschüttert wurde und durch die Medien ging. Das Cover des Romans ziert eine Favela, eines der zahlreichen Armenviertel in den Randgebieten der Großstädte Zentral- und Südamerikas. Dort leben die Schwestern Angélique und Joyeuse in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis. Ihr Leben ist entbehrungsreich, die Familie Méracin lebt zu sechst in einer einfachen Hütte.
Wir hören einander atmen. Und so hat unsere Liebe die Farben unseres Missmuts angenommen, hat sich, ihm bald zum Verwechseln ähnlich, mit unserem Groll vermengt.
Der Roman schildert aus Sicht der Schwestern einen Tag aus ihrem Leben zur Zeit des sogenannten Prophet-Präsidenten, der Duvalier-Diktatur. Francois Duvalier beherrschte von 1957 bis 1971 unter Einsatz von Gewalt und Repression Haiti.
Das Land ist geschüttelt von Unruhen, als Fignolé, der Bruder der beiden, eines Nachts nicht nach Hause zurückkehrt. Dies gibt Anlass zur Sorge unter angespannten politischen Umständen. Angélique und Joyeuse vermuten, dass er sich den Rebellen angeschlossen hat. Beide versuchen ihren Alltag auf ganz unterschiedliche Weise zu meistern – Angélique flüchtet sich in die christliche Religion, Joyeuse bemüht sich das Leben in vollen Zügen zu genießen und zerstreut sich mit verschiedenen Liebhabern. Einer von ihnen ist Luckson, den Joyeuse ungemein anbetet, er hingegen scheint jedoch kein Interesse an einer innigeren Beziehung zu haben. Zum Broterwerb arbeitet sie in der Boutique einer reichen Dame, Madame Herbruch, welche für Joyeuse jedoch nur Geringschätzung übrig hat.
Wir leben in einer Frucht, die, zur Hälfte verfault und zur Hälfte wurmstichig, gierigen Zähnen zwar noch Biss bietet, trotz allem aber ein Stadtviertel für Besiegte ist. In dem es auch Anlass zu ungetrübter Freude gibt, überschwänglich, tief empfunden, neben hässlichen Dingen, die furchtbar sind und doch allzu menschlich.
Auch Angélique trägt ihren Teil dazu bei, die Familie über Wasser zu halten, sie arbeitet als Krankenschwester. Sie hat einen Sohn, Gabriel, der seinen Vater jedoch nicht kennt. Durch die Schilderung im Roman wird allerdings nicht ganz ersichtlich, ob er Ergebnis eines Missbrauchs oder lediglich einer Liebschaft ist. Für Angélique war dies das letzte Mal, dass sie sich auf einen Mann eingelassen hat.
Auch vor Sexismus und Rassismus sind die beiden Frauen auf dieser Insel nicht gefeit. Auf einem Bankett von Joyeuses Arbeitgeberin, Madame Herbruch, wird jene von anwesenden Herren durchdringend gemustert.
Ich war keine junge Heranwachsende, sondern schlicht das schwarze Weibchen einer Gattung mit einem typischen Unterscheidungsapparat: zwei Brüste, eine Vagina. Eine Gattung, die fürs Hüttendasein bestimmt war, zum Dienen oder fürs Bett.
Auch einen Übergriff seitens Monsieur Herbruch muss Joyeuse bewältigen. Glücklicherweise hat sie auf dem harten Pflaster der Straßen von Port-au-Prince bereits gelernt mit derartigen Aufdringlichkeiten umzugehen. In der Lebenswelt der beiden Schwestern ist Sex ein Machtinstrument, Mittel zum Zweck. Auch Lolo, die mit ihnen lebt, hat dies schon früh gelernt: »Lolo hoffte unverzagt, dass auch sie eines Tages ihren seltenen Vogel fangen und er ihr den ersehnten Ring an den Finger stecken würde. ›Der Alte ist bloß die erste Sprosse auf meiner Leiter, liebste Joyeuse.‹«
Drüben, auf der anderen Seite, wo das Leben seinen Balanceakt vollführt zwischen Schalen von allerlei Essbarem, Tierkadavern, der Inkontinenz alter, dem Durchfall neugeborener Menschen und Galle aus Hungermägen.
Auch auf den Straßen von Port-au-Prince ist man nicht sicher. Der Diktator Duvalier befehligt Banden, die Zivilisten überfallen und die Aufständischen durch die Straßen jagen. Vor dem inneren Auge entfalten sich Bilder nie gekannter Grausamkeit.
Wer Glück hat, kommt von Kugeln durchsiebt davon. Den größten Pechvögeln schneiden sie die Köpfe ab und stellen sie zur Schau, am ausgestreckten Arm oder aufgespießt, und entzünden sie wie Fackeln oder verstümmeln sie, bevor sie sie den Schweinen zum Fraß hinwerfen.
Trotz dieser Gewaltherrschaft hat sich der junge Fignolé den Protestlern angeschlossen. Der Groll gegen die Missstände leitet ihn. Angélique missbilligt anfangs noch Fignolés Beute nach einem Einbruch in eine Villa der Oberschicht. Dennoch äußert sie: »Ich begriff an jenem Tag, dass die Erniedrigung uns allen Grund gab, böse und gemein zu werden. Wenn das Leben, seit dem Anbeginn der Welt, ausweglos ist für dich und deinesgleichen.«
Die Sprache des Romans ist ansprechend poetisch, auch wenn sie in wenigen Fällen unangenehm von einem pathetischen Gestus durchbrochen wird.
Wie zwei junge Kätzchen, die mit einem verletzten Vogel spielen. Sekundenlang kam mir der Gedanke, Fignolés Hände zu halten. Nur für ein paar Sekunden. Zeit genug, zu spüren, wie ihre Krallen die Zeichen verletzter Liebe in meine Haut ritzen.
Dieser Gestus trifft zuweilen auf das wiederholte Thematisieren (weiblicher) Körperlichkeit. »Nur eine Négresse kann solche Brüste, ein solches Hinterteil haben und zugleich schlank sein wie Zuckerrohr.« Da ist die Rede von »entfesselten Hüften« und der umwerfenden Schönheit der jungen Haitianerinnen. Von »Mädchen so rank und schlank wie Palmbäume, Mädchen, die, wenn die feuchte Hitze unerträglich wurde, geräuschvoll Eiswürfel lutschten oder zerkauten«.
Bei solchen Veranschaulichungen stellt sich die Frage, ob dieses Schwelgen nicht eine Essentialisierung und Verfestigung des Topos von ›weiblicher Schönheit‹ zur Folge hat, welche nicht unbedingt wünschenswert wäre.
Auf knapp 200 Seiten entfalten sich Imaginationen einer fremden Welt vor dem inneren Auge. Yanick Lahens studierte Literaturwissenschaft an der Pariser Sorbonne, bevor sie nach Haiti zurückkehrte. Auch heute noch ist die politische Lage auf Haiti instabil. Die Republik wird als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre angesehen.