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Flanieren heute. Eine Anleitung

Der große Trend unter Intellektuellen in diesem und in jedem Herbst! Das Flanieren ist eine sehr zeitgemäße Tätigkeit, die jede Person mit Schwung ausüben sollte. Dabei sind ein paar Regeln zu beachten und anschließend zu vernachlässigen. Eine essayistische Anleitung.

Von Freya Morisse

1. Zum Flanieren braucht niemand eine Anleitung, denn es gibt nichts falsch zu machen. Man kann aber mit ihrer Hilfe probieren, stilvoller zu wirken als die anderen.

2. Bestimmten Personen das Flanieren abzuerkennen, folgt einer langen Tradition. Louis Huart legt schon 1841 in seiner Physiologie du flâneur karikierend die Voraussetzungen fürs Flanieren fest, »indem er Behinderte, Fettleibige und Reiche etwa ausschließt.«1 Flanierende Frauen galten bis ins späte 19. Jahrhundert als Prostituierte.2 Die genannten Personengruppen werden daher ausdrücklich zur Flanerie aufgefordert. Besonders die Reichen.

3. Zum Flanieren sind keine besonderen körperlichen und ökonomischen Voraussetzungen oder Vorkenntnisse erforderlich.

4. Es ist aber unbedingt ein Hut mitzuführen.

5. Auch bei ungünstiger Witterung, in der kalten Jahreszeit und zu später Stunde darf und soll flaniert werden. Allerdings ist von Funktionskleidung abzuraten. Flanerie hat nichts mit Pragmatismus zu tun.

6. Göttingen ist eine für das Flanieren eher ungeeignete Stadt, da ihr alle Merkmale einer Metropole fehlen und ständig die Gefahr besteht, bekannten Gesichtern zu begegnen. Als Übungsplatz für Anfänger*innen eignet sie sich hingegen bestens, um später desto selbstsicherer in Paris, London, New York und Tokyo aufzutreten.

7. Ein Gang auf dem Wall oder um den Kiessee ist KEIN Flanieren. Die Flanerie ist vom Rundgang zu unterscheiden, dessen Route von vornherein abgesteckt ist. Wer flaniert, dreht sich nicht im Kreis. Das Wesen der Flanerie besteht darin, dass weder Körper noch Gedanken einer bestimmten Intention folgen.

8. Lassen Sie sich an unbekannte Orte treiben – in Göttingen zugegebenermaßen eine Herausforderung.

9. Walter Benjamin, bis heute Vorbild aller Flaneur-Nostalgiker*innen im deutschsprachigen Raum, hält den folgenden Trend fest: »1839 war es elegant, beim Flanieren durch die Passagen eine Schildkröte an der Leine mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.«3 Sollte es Ihnen aus verschiedenen Gründen nicht möglich sein, eine Schildkröte auszuführen, dann tut es auch ein sehr langsamer Hund.

10. Eine langsame Gangart ist nicht unter allen Umständen zu bevorzugen. Wer sich in großer Nervosität befindet, der*die sollte eine der Nervosität angemessene Gangart wählen. Wer auf einem Bein zu hüpfen oder Purzelbäume zu schlagen beabsichtigt, dem*der sei dies als eine eigenwillige Art der Flanerie zugestanden. Aber auch, wer sich nicht auf zwei Beinen fortbewegen kann, sollte flanieren dürfen. Jedes Hilfsmittel ist gestattet.

11. Achten Sie in der Öffentlichkeit in jedem Moment auf Ihre Körpersprache. Bewahren Sie Haltung und Distanz. Ganz gleich, was Ihnen unterwegs zustößt – sei es, dass Sie ausgleiten und mit der Nase im Schlamm landen – kontrollieren Sie weiterhin Ihr Mienenspiel. Falls Sie eine bekannte Person grüßt und in ein Gespräch zu verwickeln versucht, ignorieren Sie diese Zumutung. Achten Sie darauf, Ihren Mitmenschen weder Sympathie noch Empathie entgegenzubringen. Grenzen Sie sich bewusst ab. Schon Georg Simmel kennt 1903 die dem Großstadtmenschen wesentlichen Eigenschaften: Blasiertheit, Gleichgültigkeit, Intellektualität und Distanziertheit.4 Üben Sie sich in großstädtischem Habitus.

12. Legen Sie sich ein Flaneur-Image zu. Überlegen Sie, welche Selbstinszenierung zu Ihnen passt. Was ist Ihnen wichtiger: das Sehen oder das Gesehen-Werden? Entscheiden Sie sich für das Sehen, dann verkörpern Sie eine rätselhafte Person mit Hang zur Kriminalistik/zum Journalismus/zur Kunst. Lernen Sie, Spuren zu lesen und jedes Detail für bedeutsam zu erklären. Entscheiden Sie sich für das Gesehen-Werden, so richten Sie sich äußerlich derart her, dass Sie dem Dandy ähneln. Provozieren Sie mit teurer Kleidung und einem Stock mit Elfenbeinknauf.

13. Die noch größere Provokation: Lassen Sie sich Zeit. Streifen Sie an einem Werktag mehrere Stunden durch die Stadt, bleiben Sie lange auf offener Straße stehen und lassen Sie sich von den Arbeitnehmer*innen bewundern, die hastig in ihre Mittagspausen laufen. Werden Sie in jedem Fall zu einer dramatischen und umstrittenen Person.

14. Es ist durchaus erlaubt, einer Entdeckung nachzugehen, zum Beispiel eine faszinierende Person durch den Stadtraum zu verfolgen, so lange die Verfolgung nicht bis in die Privat- oder Intimsphäre hineinreicht. Bleiben Sie diskret, machen Sie nicht auf sich aufmerksam, vermeiden Sie Blickkontakt und suchen Sie unter keinen Umständen das Gespräch. Wozu reden, wenn man einander ein Geheimnis bleiben kann.
*Frauen werden ausdrücklich dazu aufgefordert, sich an diesem Spiel zu beteiligen und bevorzugt männliche Personen durch die Stadt zu verfolgen.

15. Zum zeitgemäßen Flanieren gehört der Gebrauch eines Telefons. Begleiten Sie Ihre Flanerie mit der Kamera. Berichten Sie crossmedial für Ihre Fans. Nichts ist schlimmer, als beim Flanieren unbeachtet zu bleiben.

16. Pausen sind gestattet. Verausgaben Sie sich nicht vollkommen. Bleiben Sie gelegentlich grundlos stehen. Wenn Sie sich setzen möchten, muss es nicht immer ein Jugendstil-Café mit Zeitungsstöcken sein. Heutzutage trifft man sich in einem Falafel-Imbiss.

17. Wenn Sie Ihre Flanerie in großer Erschöpfung beenden, dann sollten Sie irgendwo angekommen sein. Wenn Sie nirgendwo angekommen sind, dann wiederholen Sie die Schritte 1-15.

18. Vergessen Sie nicht Punkt 7: Das Flanieren geschieht ohne jede Intention. Beginnen Sie noch heute.

  1. Rüdiger Severin: Spuren des Flaneurs in deutschsprachiger Prosa. Frankfurt a. M. 1987, S. 8.
  2. Vgl. Walter Siebel: Eine Soziologie der Stadt. In: Rüdiger Lautmann/Hanns Wienold (Hg.): Georg Simmel und das Leben in der Gegenwart. Wiesbaden 2018, S. 111–126, hier S. 122.
  3. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 5: Das Passagen-Werk, hg. von Hermann Schweppenhäuser u. a. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1989, S. 532.
  4. Vgl. Walter Siebel: Eine Soziologie der Stadt. In: Rüdiger Lautmann/Hanns Wienold (Hg.): Georg Simmel und das Leben in der Gegenwart. Wiesbaden 2018, S. 111–126, hier S. 123.


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 Veröffentlicht am 19. November 2018
 Kategorie: Misc.
 Titelbild: Fußgänger via pxhere CC0
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