Wie erforscht man Michael Kohlhaas? Ein halbes Jahr lang haben wir in einem studentischen Projekt den Forschungsbezug in Kohlhaas-Interpretationen analysiert. Am 3. Mai folgt die Abschlusspräsentation. Ihr blicken wir mit noch viel mehr Fragen als zuvor entgegen.
Von Fabian Finkendey, Anna-Lena Heckel, Merten Kröncke, Dennis Rey und Stefan Walfort
»FoLL beflügelt« ‒ mit diesem Claim promotet die Göttinger Hochschuldidaktik ein im Rahmen von
Campus Q Plus angesiedeltes Förderprogramm namens Forschungsorientiertes Lehren und Lernen. Zwar beflügelt das einprägsame Akronym wegen seines Gleichklangs mit dem Adjektiv »voll« zuallererst die Lust auf Stilblüten. Noch mehr motiviert das dahinterstehende Konzept aber dazu, sich in einem Team aus KommilitonInnen und Lehrenden aktiv an allen Stationen eines Forschungsprozesses, vom Entwurf zentraler Hypothesen über das Design des Analyseverfahrens und das Auswerten bis hin zur Evaluation, zu beteiligen. Erste Ergebnisse stellen die Teilnehmenden hinterher in einer öffentlichen Abschlusspräsentation vor. »Studierende aller grundständigen Studiengänge« sollen sich angesprochen fühlen, ein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen. Wer mitmacht, lernt auch zu kalkulieren, wofür Gelder beantragt werden müssen. Je nach Vorhaben sind beispielsweise Gastvorträge oder Exkursionen sinnvoll. Ferner kann es vonnöten sein, eine Hilfskraft einzustellen. Wer mitmacht, gewinnt Einblicke in einige über Seminare nur schwer vermittelbare Seiten des Universitätsalltags – Teamfähigkeit und Frustrationstoleranz inklusive. Wer sich berufen fühlt zum Engagement in einem der Projekte, die sich jedes Semester neu konstituieren, seit FoLL im Jahr 2010 erstmals initiiert wurde, muss sich »in einem Forschungsteam zusammenfinden, gemeinsam eine Projektidee entwickeln und diese in einem Exposé darstellen«. Auf genauere Modalitäten weist die Homepage der Hochschuldidaktik hin.
Am 3. Mai dürfen sich Interessierte, ganz gleich ob sie eine Teilnahme anstreben oder lediglich auf Ergebnisse gespannt sind, auf Beiträge freuen, die Studierende aus der Archäologie, der Chemie, den Sozialwissenschaften, den Agrarwissenschaften und der Germanistik im letzten Wintersemester erarbeitet haben. Die Germanistik wird unter dem Motto Erforschen, wie man Kleist erforscht die Bühne betreten. Das Projekt hoben die AutorInnen des vorliegenden Textes zusammen mit zwei Lehrenden, den LiteraturwissenschaftlerInnen Simone Winko und Stefan Descher, im Anschluss an ein Seminar zur Kohlhaas-Forschung aus der Taufe. Ausschlaggebend war ein Verdacht: Könnte es sein, dass sich die Forschung um einen kritischen und argumentativen Diskurs herumdrückt? Den Eindruck gewannen wir, als wir am Beispiel von Forschungstexten die Interpretationspraxis unter die Lupe nahmen. Wenn Forschende zu Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas publizieren, neigen sie bisweilen dazu, von wissenschaftlichen Standards, wie sie in Seminaren gelehrt werden, abzuweichen. So viel ließ sich festhalten. Unserem Empfinden nach bezogen sich die AutorInnen nicht häufig genug auf Beiträge anderer, und in Fällen, in denen doch Bezugnahmen erfolgen, waren sie nur selten argumentativ. Ob von dem Befund ausgehend allgemeinere Aussagen über die Kleist-Forschung zulässig sind? Inwieweit beruhen die im Seminar gefällten Urteile bloß auf Intuitionen? Inwieweit lassen sie sich empirisch bestätigen?
Nur mal eben zählen?Die gesamte Kleist-Forschung auf den Prüfstand zu stellen, erforderte einen im Rahmen von FoLL nicht zu meisternden Aufwand; das stand von vornherein fest. Zumindest näherungsweise sollte es aber möglich sein, wenigstens speziell zur Kohlhaas-Forschung valide Schlüsse zu ziehen. Deshalb werteten wir über siebzig während der letzten zwanzig Jahre veröffentlichte Interpretationen zu Michael Kohlhaas aus. In einer Excel-Tabelle hielten wir fest, wie oft sich in den untersuchten Forschungstexten auf Kleist- bzw. Kohlhaas-Forschung, Kontextliteratur, Literaturtheorien oder Quellen bezogen wurde. Darüber hinaus differenzierten wir die Verweise auf Kleist- bzw. Kohlhaas-Forschung danach, ob sie in der Fußnote oder im Fließtext auftauchen, ob sie direkte Zitate einbinden oder nur paraphrasieren, sowie nach ihrem Umfang. Ins Zentrum rückten wir die Frage, wie häufig sich in den Texten argumentativ mit anderer Forschung auseinandergesetzt wurde. Argumente müssten leicht quantifizierbar sein, so meinten wir zunächst. Dort, wo viel argumentiert wird, seien viele Belege vonnöten, also auch viele Bezugnahmen auf Beiträge des gleichen Diskurses. Wer wollte überdies bestreiten, dass der argumentativen Auseinandersetzung mit der Forschung in der wissenschaftlichen Praxis eine maßgebliche Relevanz beizumessen ist? Doch ist dort, wo sie fehlt, Wissenschaft gleich defizitär? Welche normativen Prämissen drohen durch solche Annahmen in unser Forschungsdesign einzufließen? Sollte nicht ein möglichst deskriptiver Anspruch verfolgt werden? Um zu differenzierteren Perspektiven zu gelangen, dürfe die qualitative Seite der Argumente nicht aus dem Fokus geraten; auch das leuchtete unmittelbar ein. All diese Fragen haben selbst kurz vor der Abschlusspräsentation nicht an Brisanz eingebüßt.
Der Blick in das Textkorpus zeigte schnell, wie stark des Öfteren Argumente mit Deskription, mit Wertung und mit manchmal nur schwer klassifizierbaren Phänomenen ineinandergreifen. Syllogismen zu rekonstruieren oder mit linguistischen Rekonstruktionsverfahren nach Implikaturen oder Präsuppositionen zu fahnden, erwies sich als untauglich. Doch wie ist dann damit umzugehen, wenn Forschende en passant Seitenhiebe gegen ihnen unliebsame Literaturtheorien austeilen? Wolfgang Wittkowski behauptet beispielsweise in Ablehnung einer spezifischen Spielart des Poststrukturalismus, nur »wenn man genauer hinsieht, vor lauter ›Dekonstruieren‹ nicht übersieht, daß wie Lessing und die Klassiker eben auch Kleist schon ›dekonstruiert‹, entlarvt«, lasse sich erkennen, worin »die wahre Problematik von den eindrucksvollen Figuren der Kurfürsten« in Kleists Novelle wurzele.1 Wie ist damit umzugehen, wenn er die Positionen eines anderen Interpreten als »phantasiereich«2 attribuiert? Was lässt sich folgern, wenn jemand an bestimmte literaturtheoretische Verfahren Anschluss sucht und sich gleichzeitig von eben solchen distanziert3, so dass der Eindruck einer Inkonsistenz entsteht? Je weiter der Analyseprozess fortschritt, desto mehr wuchs die Liste der Fragen. Zusätzliche Impulse ergaben sich aus einem Workshop mit SpezialistInnen aus den Bereichen Kleist-Forschung, Computerphilologie und literaturtheoretischer Praxeologie. Erhellend war vor allem zu hören, welche Vielfalt an Faktoren auf die Auswahl zur Publikation geeigneter Texte einwirkt und welche Bedingungen des Wissenschaftssystems – zum Beispiel der Druck, möglichst viel zu publizieren – für die von uns beobachteten Phänomene verantwortlich sein könnten.
…und die Ergebnisse?Wer Details erfahren und sich inspirieren lassen möchte von den Erkenntnissen, die aus der komplexen Gemengelage destilliert werden konnten, erhält dazu am 3. Mai Gelegenheit. Um 18 Uhr werden im Adam-von-Trott-Saal in der Alten Mensa am Göttinger Wilhelmsplatz die Ergebnisse der FoLL-Projekte in Kurzvorträgen präsentiert. Im Anschluss daran gibt es die Möglichkeit, Poster der Teams anzuschauen und vertiefende Gespräche zu führen.