Während die Vögel munter zwitschern, die ersten grünen Blätter sprießen und die warmen Strahlen der Frühlingssonne das triste Grau des Winters vergessen lassen, hat auch der Göttinger Literaturherbst verheißungsvolle Vorboten ins Land geschickt. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums lud das prestigevolle Festival gemeinsam mit dem Literarischen Zentrum zu einem spannenden Wochenende mit zahlreichen Größen der zeitgenössischen Literatur ein, das die Weichen für die eigentlichen Feierlichkeiten im Oktober stellt.
Von Antje Dreyer
Gegründet wurde der Göttinger Literaturherbst 1992 von dem damals 27-jährigen Christoph Reisner (†2014). Das erste Mal fand die Literaturveranstaltung noch nicht in dem jetzt populären zehntätigen Festivalformat in und um ganz Göttingen statt. Vielmehr handelte es sich 1992 noch um eine bis in den Januar 1993 hineinreichende Veranstaltungsreihe im Ballhaus Grone mit acht Lesungen, unter anderem mit Max Gold, Bodo Kirchhoff oder Doris Dörrie. Bereits ein Jahr später zog der Literaturherbst aufgrund seines großen Erfolgs in das zentrale Universitätsgebäude um und lud auch internationale Gäste wie Douglas Adams oder T.C. Boyle ein. 1997 schließlich wandelte sich auch das Format der zeitlich weitläufigen Veranstaltungsreihe zu einem stark konzentrierten Festival, dessen Beginn immer mit dem Startfreitag der Frankfurter Buchmesse zusammen fällt und auf dem seit 2014 der/die Deutsche BuchpreisträgerIn die erste öffentliche Lesung außerhalb der Messe hält. Letzteres ist auch das Resultat der gelungenen Kooperation mit dem Göttinger Literarischen Zentrum, die seit 2014 dem Festival zu neuen Besucherzahlen und Lesungsformaten verhelfen konnte. Weitere Kooperationen bestehen u.a. mit der Georg-August-Universität Göttingen, den ansässigen Max-Planck-Instituten und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Der Literaturherbst hat sich in den letzten 25 Jahren auch dank des unermüdlichen und neugierigen Publikums zu einem der wichtigsten Literaturfestivals nicht nur der Region, sondern des deutschsprachigen Raums insgesamt entwickelt. Die VeranstalterInnen, die im Sinne Reisners den »Herbst« weiterleben lassen, feiern 2016 das Jubiläum mit einem großen Ausrufezeichen und geben eine literarische Kostprobe im Frühling.
Die Gegenwart in BewegungMit einem facettenreichen Programm, das die Vielfalt der deutschen Gegenwartsliteratur und -kultur eindrücklich widerspiegelte, wartete der Herbst im Frühling vom 15. bis 17. April an drei Tagen auf. Am Freitag lockte der renommierte niederländische Psychologiegeschichtsprofessor Douwe Draaisma mit einem wissenschaftlichen Vortrag zum Träumen und Vergessen in die Paulinerkirche. Dabei berichtete er in der Reihe »Wissenschaft beim Göttinger Literaturherbst« nicht nur über aktuelle Forschungspositionen der Schlaf-, Traum- und Alzheimerforschung, sondern band das Publikum auf humorvolle Weise mit Fragen, die zur Reflexion anregten, ein.
Im Alten Rathaus gab auch der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, Navid Kermani, Anlass zum Nachdenken. Kermani, der sich schon mit seiner mutigen Friedenspreisrede in eine sowohl politisch als auch religiös geprägte Tradition der deutschen Literatur gestellt hat, erörterte im Gespräch mit Hanno Rautenberg (ZEIT) seine bildlich-sinnliche Erfahrung des römisch-katholischen Christentums und las im Zuge dessen aus seinem neuen Buch Ungläubiges Staunen (2015). Dass die Veranstaltung bereits lange im Voraus ausverkauft war, zeugt von der hohen Bedeutung, die dem Intellektuellen und seiner Schlüsselposition zwischen Christentum und Islam zugeschrieben wird. Die Eröffnung eines interkulturellen und vor allem auch interreligiösen Dialogs scheint dabei, bedingt durch das Zusammenwachsen der Welt über Flucht, Krieg und auch Globalisierung, immer spürbarer eine gesellschaftliche Notwendigkeit zu werden.
Die erste der vielversprechenden Veranstaltungen im Alten Rathaus mit Heinz Bude, bei der gesellschaftliche Kollektive und der Einfluss ihrer Stimmungen in den Blick genommen werden sollten, musste am Samstagabend aus Krankheitsgründen verschoben werden (Nachholtermin ist der 10. Mai, die Karten behalten ihre Gültigkeit). Martin Walser konnte jedoch zu später Stunde mit der Lesung aus seinem jüngsten Roman das Publikum in seinen Bann ziehen, vor allem dann, wenn er Eindrücke vom Entstehungsprozess des Werks gab. In Ein Sterbender Mann (2016) beschreibt Walser den Wunsch eines Verratenen, dem Leben endgültig den Rücken zuzukehren. Der Protagonist Theo Schadt, 72 Jahre alt, wurde von seinem Geschäftspartner hintergangen und verliert einen großen Teil seiner beruflichen Existenz und ist finanziell ruiniert. Während er nun an der Kasse im Tango-Zubehör-Laden seiner Frau sitzt, surft er im Internet und stößt auf Suizidforen. Er beschließt, sich das Leben zu nehmen, was zu einem Dialog mit Aster, die ebenfalls im Forum schreibt, führt – aber auch zum Gespräch mit der ganz realen Sina, einer Kundin aus dem Laden. Der Roman des vielfach ausgezeichneten Schriftstellers ist nicht einfach nur ein weiterer unter vielen. Durch die einmalige Mitarbeit von Thekla Chabbi (Sinologin und Übersetzerin), die ein Resultat eines E-Mail-Verkehrs der beiden ist, wagte Walser sich an für ihn exotische Themen wie Suizidforen im Internet oder den erotischen Tango heran. Unter der herausragenden Moderation von Anke Detken gaben Walser und Chabbi dem vollbesetzten Publikum einen profunden Einblick vor allem in die Komplexität des Romans, aber auch in die kleinschrittige Zusammenarbeit.
Verhandlungen von IdentitätGeht es Kermani und Tuckermann etwa um die Wissensvermittlung und Nachvollziehbarmachung von Migrationsbewegungen auf der Welt, so verhandeln sie auch Fragen nach Identitätssuche und -stiftung durch Religion, Sprache oder Herkunft und Heimat. In ihrer Lesung und besonders im Werkstattgespräch mit Stephan Lohr am Sonntagmorgen wurde offenkundig, dass auch Dörte Hansen dieses Themen umtreibt. Von diesem Interesse zeugt zum einen das Sujet ihres Romandebüts Altes Land (2015), das überraschend seinen Platz auf die Bestseller-Listen fand, anderseits auch ihr wissenschaftlicher Backround: Hansen ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und hat sich in ihrer akademischen Laufbahn mit Sprachkontakt und Diglossie beschäftigt, Themen, die Rand- oder Mischgebiete zwischen zwei oder mehreren sprachlich klar umrissenen Räumen in den Blick nehmen. Wenn es in ihrem Roman um Heimatlosigkeit, um Verlust, um das Suchen und Wiederfinden des Selbst, um Flucht geht, wird dies zum einen sprachlich über die Gegensätze von Platt- und Hochdeutsch aufgegriffen, vor allem aber über topographische Oppositionen. Hamburg-Ottensen und das Alte Land sind die konkreten Schauplätze, an denen die beiden Protagonistinnen des Romans eingeführt werden und wo sie einander begegnen: Vera, die Zurückgelassene, die ihr Haus auf dem Land verfallen lässt, und Anne, die, betrogen von ihrem Mann, mit ihrem kleinen Sohn aus der Stadt flieht. Dörte Hansen erzählt eine Geschichte von Müttern und Männern, von enttäuschenden Beziehungen und dem Wunsch nach einer Familie.
Die Veranstaltung, ein lebhafter und doch eleganter Wechsel zwischen Lesung und Gespräch, trug den vielsagenden Titel »Altes Land und neue Ufer«, wobei die Aufmerksamkeit schließlich auch auf die rezenten Aktivitäten der Autorin gerichtet wurde. Was passiert nach der Fertigstellung eines Buchs? Wie groß ist der Erfolgsdruck? Und, vor allem, worum geht es in ihrem neuen Buch? Das gebannte Publikum kam in den exklusiven Genuss einer einzigartigen Kostprobe aus dem zweiten, gerade erst im Entstehen begriffenen Roman, in dem Fragen über die Zugehörigkeit, um das Kennen und Erkennen gestellt werden. Hoch im Norden, in Nordfriesland, spielt die Geschichte Nanning Feddersens, der als Sohn eines Gastwirts vom Lande zum Studium in die Stadt nach Kiel geht und seine Eindrücke von Leben und Arbeit als Ur- und Frühgeschichtler vermittelt, jedoch immer durch die Brille eines Landmanns. Bereits eine kurze Passage, die die Autorin vorlas, sorgte wie ihr Roman Altes Land für Heiterkeit im Publikum, das schnell in die Welt des neuen Buchs mit vielen einprägsamen Bildern des genuin norddeutschen Lebens eintauchte und neugierig auf mehr gemacht wurde.
(Un-)SterblichkeitDie Lesung mit Thea Dorn am frühen Sonntagabend behandelte die Beobachtung von einer immer stärker wahrnehmbaren Bewegung, einer Beschleunigung der Lebensweisen in der heutigen Gesellschaft. In Die Unglückseligen (2016), von Martin Walser als Jahrtausendroman bezeichnet, verarbeitet sie einen literarisch höchstproduktiven Stoff, der besonders in zivilisatorischen Umbruchphasen virulent geworden sei, so Dorn. Der Fauststoff, von hohem Interesse bereits in der Lutherzeit, in der durch den reformatorischen Impetus neue Denkweisen in der Gesellschaft angestoßen wurden, erfuhr besondere Aufmerksamkeit während der Goethezeit, die Thea Dorn mit dem Beginn der Industrialisierung um 1800 als Phase von Umwälzungen wahrnimmt. Warum sich kein Schriftsteller heutzutage an den Stoff heranwagte, kann auch die Autorin und Moderatorin nicht beantworten, gerade da sich der Verdacht eines markanten Beschleunigungsschubs in den letzten zwei Dekaden erhärtet habe. Auf etwa 550 Seiten schreibt sie schließlich selbst über Tod, Teufel und Unsterblichkeit – und konnte im Rahmen des Herbsts im Frühling beweisen, dass es sich lohnt, einen Blick in die Schatzkiste der literarischen Traditionen zu werfen. Denn Faust ist aktueller denn je! Im Gespräch mit Ulrich Kühn vom NDR wurde auch die obligatorische Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt: Das faustische Bestreben nach Unsterblichkeit stelle diesen Sinn in noch weitere Ferne, so Dorn, die als Strukturverfechterin Anfang, Mitte und Ende als zentrale Ordnungsprinzipien versteht, und die die Ewigkeit als eine Verdammnis zur Struktur- und vermutlich auch zur Sinnlosigkeit wahrnimmt.
In der Abschlussveranstaltung des Wochenendes kamen die Zuschauer ebenfalls auf ihre Kosten und konnten einen lockeren und unterhaltsamen Abend mit Philipp Köster und Jens Kirschnek von der Redaktion des Fußball-Indie-Magazins 11 Freunde genießen. Statt Wasser gab es Bier und im Gegensatz zu den anderen, stilleren Lesungen, waren zahlreiche eingespielte Videos ein obligatorischer Bestandteil ihres Veranstaltungsformats. Anekdotenhafte Erzählungen sorgten zwei Stunden lang für eine gelöste Atmosphäre im Deutschen Theater: Anstelle von existenziellen Fragen oder der Auslotung von Identitätssemantik wurde hier verhandelt, warum Kirschnek in Berlin so selten ins Stadion geht, welche Bedeutung Rot-Weiß-Essen zukommt oder was es mit der Bundesliga des Grauens auf sich hat; Dinge, die das junge und größtenteils männliche Publikum sichtlich erheiterten. Dass Fußball ein nicht zu verachtender Bestandteil des Literaturherbstes sei, unterstrichen einleitend bereits Johannes-Peter Herberhold, Gesamtleiter des Festivals, und Gesa Husemann vom Literarischen Zentrum, die die Programmbetreuung des Herbstes verantwortet. Und auch die 11 Freunde-Redaktion überzeugte auf ganzer Linie (um hier mindestens eine Fußballmetapher zu bemühen). Fußball ist und bleibt ein bedeutsames Element der deutschen Gegenwartskultur, der auch in literarischen und intermedialen Kurzformaten erkundet wird und eine sehr weite Öffentlichkeit anzusprechen vermag.
VorfreudenFragen zur Identität, zu Fremdheitsgefühlen und Neuanfängen, zur Stadt-Land-Dichotomie oder zur Sehnsucht nach Unsterblichkeit verdeutlichen, dass mit der Literatur, in der Funktion als Spiegel der Gesellschaft, stetig ein kritischer, hinterfragender, neugieriger Blick auf die Gegenwart gerichtet werden kann. Wie ein roter Faden durchzogen diese wichtigen, aktuellen, grundlegenden Themen auch das Frühlingswochenende in Göttingen und gaben dem Publikum die Gelegenheit, über sich und ihr Verhältnis zu anderen, zur Welt, nachzusinnen. Das literarische Resultat war die affirmative Einsicht in unsere gesellschaftliche Gegenwart, einem bunten Mosaik gleich, schillernd, sich nahtlos aneinander fügend und gleichzeitig vielfältig in ihren Facetten.
Der Herbst im Frühling kann wohlverdient als ein gelungener Auftakt ins Jubiläumsjahr bezeichnet werden, denn er bot ein reiches Repertoire: Alt und Jung wurden angesprochen, vertreten war die Wissenschaft neben der schöngeistigen Literatur, die nicht nur durch Hochtrabendes, sondern auch durch Populäres Präsenz zeigte. Dies ist vor allem der exzellenten Organisation des Wochenendes zu verdanken, die sowohl über die geschickte Auswahl der Gäste als auch über die gut durchdachte Besetzung der Moderatoren ein flüssiges und spannendes Gespräch nicht nur innerhalb der einzelnen Veranstaltungen, sondern auch zwischen diesen hervorzuzaubern vermochte. Dem enthusiastischen Publikum bleibt schließlich die Vorfreude auf weitere spannende und literarisch wertvolle Augenblicke im Herbst, der – zumindest aus Sicht der Göttinger Literaturbegeisterten – nicht schnell genug kommen kann.