Am DT wird Tschechows Die Möwe gegeben. Der Untertitel verspricht eine Komödie, aber Tragik bleibt natürlich nicht aus. Zwischen Birken und Landhaus-Tristesse grassieren Egoismus, Dekadenz und lähmender Stillstand. Damit umzugehen ist schwer. Am Ende gibt lediglich die Möwe Hoffnung.
Von Philip Emanuel Bockelmann
Es sitzen noch nicht einmal alle Gäste auf ihren Plätzen, da begibt sich der Arbeiter Jakow (Jan Hendrik Hutanus) auf den Bühnenteil vor dem Vorhang und zimmert lautstark an einem Holzpodest herum. Zwei Personen lachen heiter dahinter. Man vernimmt erste Stimmen im Publikum, die irritiert fragen: »Geht es etwa schon los?« Schließlich hebt sich der Vorhang und erstaunlich viel Vertrautes ist zu sehen: Der Bühnenboden ist mit Wasser bedeckt (Bühne: Eleonore Bircher). Die Schauspieler tragen weiß-beige Kleidung (Kostüme: Ilka Kops). Dann gehen sie auch noch bei gedimmtem Licht mit Kerzenhaltern über die Bühne. Wenn man nicht wüsste, dass Tschechows Die Möwe auf dem Spielplan steht, könnte man meinen, es handele sich um eine Wiederaufnahme von Shakespeares Was ihr wollt, welches ebenfalls von Mark Zurmühle am Deutschen Theater in Göttingen inszeniert wurde und dessen Erscheinungsbild frappierende Ähnlichkeiten zum aktuellen Stück aufweist.
Dekadente Langeweile auf dem LandDa dem aber nicht so ist, sind auch keine Edelmänner, Herzöge oder Haushofmeister zu sehen, die die Liebe der Gräfin Olivia an einem Ort namens Illyrien gewinnen wollen. Stattdessen tummeln sich Künstler und Akademiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf der Bühne, die auf einem russischen Landgut im Sommer im Kreise von Familie und Freunden den Zustand der Unzufriedenheit erproben. Erproben deswegen, weil es eine selbstgemachte ist. Keiner von ihnen kann oder will wirklich etwas gegen seine Unzufriedenheit tun. Liebe ist trotzdem eines der vordergründigen Themen. Es gibt allerdings kein Happy End wie bei Shakespeare, sondern einen tragischen Schluss. Denn im Gegensatz zu Was ihr wollt führen bei Tschechow keine Täuschungsmanöver und inszenierten Verwirrspielchen zum Liebesglück. Das Liebesgewirr als Leitthema löst vielmehr ein kollektives Unglücklich-Sein aus. Zum Beispiel liebt der angehende Schriftsteller Konstantin Nina, Nina aber den namhaften Schriftsteller Trigorin, der wiederum mit Konstantins Mutter, der Schauspielerin Arkadina zusammen lebt.
Unzufrieden ist die versammelte Gesellschaft aber auch, weil die einen an Lebensträumen verzweifeln und die anderen trotz ihres wohlsituierten Daseins an vermeintlichen Existenzängsten leiden. Eines der Hauptgesprächsthemen ist die Kunst. Die wenigsten haben aber Verständnis für die Kunstauffassung des Gegenübers und so wird über das Wesen von erzählter und dramatischer Kunst gestritten und über traditionelle und experimentelle Auffassungen; angefeuert von einem resoluten Generationenzwist. Damit ist das konfliktreiche Gerüst gegeben.
Als ob es nur sich selbst gäbeDie Schauspieler sind unzufrieden, weil sie von gegenseitigem Desinteresse erfüllt sind, nicht befähigt, empathisch miteinander zu reden, Konflikte gemeinsam zu lösen. Eine aufopferungsvolle Handlung im Dienste der Freundschaft wie zwischen Shakespeares Antonio und Sebastian ist hier unvorstellbar. Vielmehr sehen sich die Figuren beim Reden nicht in die Augen, schweifen zusammenhangslos zu selbstbezogenen Themen ab oder machen nebenbei etwas ganz anderes. So zum Beispiel als Konstantin (Moritz Pliquet) wütend und enttäuscht sein Theaterstück abbricht, dem er zuvor noch enthusiastisch entgegenfieberte. Denn seine Zuschauer können sich nicht auf die Illusion einlassen. Sie reden fast teilnahmslos nur kurz über das soeben gesehene Stück und bemerken nicht, dass sie Konstantin damit verletzen. Viel lieber reden sie über das Angeln oder erinnern sich an witzige Ereignisse vergangener Opernbesuche.
Im II. Akt findet Zurmühle ein noch ausdrucksstärkeres Bild, um die moderne Selbstbezogenheit des Menschen auf der Bühne darzustellen. Er positioniert gleich sechs Personen dicht zusammengequetscht auf einem kleinen Holzpodest. Sie reden zwar miteinander, kommen aber nicht auf die Idee, ernsthaft aufeinander einzugehen, sondern blicken suchend in die Leere, die genug Platz gibt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Besonders Karl Miller, der den Lehrer Medwenko gibt, sticht hier heraus und sorgt mit seinen zugehaltenen Ohren für Erheiterung.
Ein gutes Gespür für CharaktereAber nicht nur Miller mit seiner schlaksigen, tollpatschigen Art à la Junker Bleichenwang, der unbeholfen und selbstmitleidig umherwankt und über sein geringes Einkommen als Lehrer lamentiert, begeistert. Genauso
Am Ufer eines Sees wächst ein junges Mädchen auf […]; sie liebt den See wie eine Möwe, und sie ist glücklich und frei wie eine Möwe. Aber da verschlägt es einen Mann an den See, er sieht sie, und vor lauter Nichtstun stürzt er sie ins Verderben, so wie eine Möwe.
Die Spannungen zwischen den trefflich überzeichneten Charakteren vermögen zu fesseln; sie sind förmlich zu spüren: man fühlt, lacht und leidet mit. So unterschiedlich die Eigenschaften der Figuren sind, gemeinsam ist ihnen doch, dass sie es nicht schaffen, sich zu verändern. Ausgenommen die Möwe, Nina.
An Schwung gewinnt das Stück durch russische Volksmusik vom Tonband (Musik: Jan Exner). Dazu kommt es zu einem fulminanten Ausdruckstanz, in den Marie-Thérèse Frontheim all den Schmerz und die Verzweiflung der Mascha legt und mit dem sie den Rahmen der ansonsten klassischen Inszenierung sprengt (abgesehen von Florian Eppinger als Quoten-Nackter). Genauso wie die musikalische Untermalung begleitet das eindrucksvolle Bühnenbild wie selbstverständlich die Stimmung der einzelnen Szenen und macht sie noch eingängiger. Die kargen Birken kreieren im Zusammenspiel mit Nebelschwaden, reflektierendem Wasser und sphärischem Licht vor und während Konstantins Aufführung im I. Akt eine mystische Atmosphäre. Dagegen wirkt das Bühnenbild im kalten Licht und der Dunkelheit des IV. Aktes vor Konstantins Suizid, der drastischsten und ichbezogensten Handlung, unheimlich und bedrohlich.
Mehr Mut, bitte!Ohnehin ist im letzten Akt vieles ein bisschen anders. Die Zeit bis zur Pause vergeht wie im Flug, danach jedoch umso schleppender – und die Regie weiß das. So wird der IV. Akt mit lauter Musik und Paukenschlägen eingeleitet, um die Sinne noch einmal zu schärfen. Das schleppende Tempo hängt wohl vor allem mit der ausgeprägten Nähe zum Originaltext zusammen. Einerseits ist dies sicherlich notwendig, um alle Nuancen in den Beziehungen auszuleuchten. Andererseits wäre mehr Mut zum Kürzen oder Ändern sinnvoll gewesen – genauso wie Nina im Gegensatz zu Konstantin am Ende den Mut findet, selbstbewusst ihren eigenen Lebensweg zu bestreiten. Nichtsdestotrotz überzeugt das Gemisch aus Komik und Tragik sowie die Schauspielleistungen. Und es ist wieder der Beweis gegeben, dass Tschechows Dramen, neben denen von Shakespeare, zurecht zu den beliebtesten gehören, da sie durch ihre zeitlosen Themen nicht an Aktualität verlieren.