Gundolf Freyermuths Buch ist die Synthese aus Spieldesign und Spielforschung, ein theoretisch fundiertes, historisch kontextualisierendes aber auch nicht voraussetzungsfreies Werk rund um einen Gegenstand, der sich in der deutschen Forschungslandschaft noch etablieren muss.
Von Rashid Ben Dhiab
Die Erforschung digitaler Spiele ist ein junges Feld der Wissenschaft und erlebt erst seit etwa Mitte der 1990er-Jahre einen wirklichen Aufstieg in ernstzunehmende Höhen. Dies ist vor allem dem relativ neuen Medium geschuldet, das von der Öffentlichkeit lange Zeit als reines Kinderspielzeug betrachtet wurde. Über Jahrzehnte wurde es unterlassen, digitale Spiele wissenschaftlich zu untersuchen. Ein Versäumnis, durch das sich die unterschiedlichsten Disziplinen mit diesem Thema zu beschäftigen begannen und jeweils eigene Methoden und Analyseverfahren entwickelten.
Was bis heute fehlt, ist eine einheitliche wissenschaftliche Ausrichtung und eine Methodologie, die es auch jungen NachwuchswissenschaftlerInnen, DozentInnen oder Interessierten erlaubt, zügig in das Thema hineinzufinden.
Ein derartiges Anliegen verfolgt Gundolf S. Freyermuth in seinem Werk Games | Game Design | Game Studies: An Introduction, das im November 2015 als englischsprachige Ausgabe beim transcript-Verlag erschienen ist. Auf 296 Seiten verfolgt er das Ziel einer holistischen Betrachtung der historisch-kulturellen sowie technischen Entwicklung digitaler Spiele, als auch des Erwachens des akademischen Interesses an diesem neuartigen Medium.
Verspielte GeschichteWie der Titel des Werks bereits andeutet, hat Freyermuth seinen Text in drei große Bereiche unterteilt. Zunächst befasst er sich im Kapitel »Games« mit der Definition des Spielbegriffs im Allgemeinen und zeichnet die Ursprünge und medienhistorischen Entwicklungen digitaler Spiele nach. Dabei zeigt er vor allem auf, wie problematisch und zuweilen unmöglich es sich gestaltet, eine allgemeingültige und dauerhafte Definition zu finden, da digitale und analoge Spiele sich teils deutlich voneinander unterscheiden, und spricht von einer »Alterität« digitaler Spiele. Sie seien neue Hybriden, die zwischen analogen Spielen und audiovisuellen Medien oszillierten.
In einem historischen Abriss der medialen Entwicklung identifiziert Freyermuth drei maßgebliche Schübe, die digitale Spiele in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben. Der »procedural turn« der 1950er-Jahre legte mit der erstmaligen Digitalisierung von Spielen bzw. deren Regelwerken den Grundstein für einen Komplexitätsanstieg durch computergestützte Datenverarbeitung. In den 1970er-Jahren, zeitgleich mit dem ersten Aufstieg der Spielindustrie, verband der »hyperepic turn« die Regelwerke digitaler Spiele mit fiktionalen Welten und narrativen Inhalten. Zwei Jahrzehnte später verschmolz der »hyperrealistic turn« digitale Spiele durch rasante technologische Weiterentwicklungen mit der Ästhetik von Filmen, die dadurch zunehmend foto- und hyperrealistische Welten generieren konnten.
In einem kurzen Intermezzo zwischen den ersten beiden Kapiteln behandelt Freyermuth die wechselseitigen Beziehungen zwischen digitalen Spielen und Filmen und die Veränderungen im audiovisuellen Storytelling, die dadurch entstehen.
Digitalisiertes DesignFreyermuth liefert im zweiten Kapitel einen umfassenden historischen Überblick über prozessuale Verfeinerungen von Prototypen, den Einfluss von Arbeitsteilung und Taylorismus im 19. Jahrhundert und die Evolution analoger Designpraktiken unter der Einwirkung verschiedenster Theorien aus einer Vielzahl anderer Disziplinen. Diese Praktiken waren jedoch nicht ohne weiteres auf das Digitale übertragbar, wie man laut Freyermuth Mitte des 20. Jahrhunderts erkannte. Die Programmierung von Software war kein sequenzieller Prozess, da im immateriellen Programmcode Design und Herstellung direkt ineinander flossen.
Nach einem Abriss der ersten vierzig Jahre des Game Designs behandelt Freyermuth die Rolle des Game Designers, der von ihm seltener als eine einzige Person verstanden wird, sondern vielmehr als eine Funktion, die von einer mehrköpfigen Gruppe erfüllt wird.
Das Kapitel schließt mit einem überraschend unterhaltsamen wie informativen Abdruck eines Essays von Nathalie Pozzi und Eric Zimmerman zur Methodologie des »playtesting«. In 25 Schritten erklären die beiden Verfasser, wie ein Projekt vor der Fertigstellung auf seine Funktionalität und Wirkung auf RezipientInnen geprüft werden kann.
Nachdem er das Spiel an sich und dessen Herstellung umfassend betrachtet hat, begibt Freyermuth sich im letzten Kapitel auf das akademische Feld der Game Studies.
Während sich die Erforschung digitaler Spiele gerade mit großen und zügigen Schritten zu etablieren beginnt, beschäftigen sich AkademikerInnen bereits seit deutlich längerer Zeit mit dem Spiel im Allgemeinen. Freyermuth nennt beispielsweise u.a. Gottfried Wilhelm Leibniz als einen der wichtigsten Vordenker. Der Philosoph und Mathematiker legte mit seiner Entwicklung einer binären Rechenmaschine den Grundstein für die heutige Computertechnologie – also auch für digitale Spiele. Zudem sah er in Spielen eine Methode zur Wissensvermittlung und Ausbildung verschiedener Fertigkeiten.
Wegweisend für die modernen Game Studies waren allerdings Johan Huizingas Homo Ludens (1938) und Les jeux et les Hommes (1958) von Roger Caillois. Besonders Caillois’ sehr klare Unterscheidung und Einteilung in die beiden übergeordneten Kategorien instinktiver Spiele ohne Regeln (paidia) und Spiele mit vorgegebenen Zielen und Regelwerken (ludus) sowie diverse damit korrespondierende Unterarten ist bis heute ein hilfreiches Instrument in der Analyse und Klassifizierung analoger wie digitaler Spiele.
Freyermuth weist auf Schismen in den Game Studies hin, die vor allem aus ihren interdisziplinären Wurzeln erwachsen sind. Die unterschiedlichen Herangehensweisen, die bisher in diesem Feld zur Anwendung kommen, sind größtenteils Exaptationen von Verfahren aus Sozial- und Geisteswissenschaft. Diese finden jedoch nur im rein akademischen Kontext Anwendung, da die Industrie sich auf praktikable Theorien des Game Designs stützt, die die Herstellung von Spielen zum Gegenstand haben und weniger die Untersuchung von deren Auswirkungen und Strukturen. Freyermuth widmet daher auch ein Unterkapitel der Überwindung der Schismen und der Synthese einer neuen Ausrichtung der Game Studies aus adaptiven Herangehensweisen, indem beispielsweise Spielstrukturen in die Lehre integriert und neue Verfahren ohne Bezug zu den bisherigen medialen Formen entwickelt werden sollen.
Ebenso führt Freyermuth aber auch das Genre der Serious Games und Gamification als Forschungsgegenstände an. Serious Games zielen nicht auf Unterhaltung, sondern Vermittlung eines bestimmten Sachverhalts oder Themas aus dem realen Leben ab. So behandelt z.B. das autobiografische Spiel That Dragon, Cancer von Ryan und Amy Green die Krebserkrankung und den Tod ihres gemeinsamen Sohnes Joel im Kleinkindalter. Diese Sparte des Spielangebots stammt zudem meist nicht von der Industrie, sondern kleinen, unabhängigen Entwicklern, da sie aufgrund ihrer ernsthaften Thematik nicht die breite Masse anspricht. Gamification hingegen ist die Applikation spielerischer Elemente auf Alltag und Beruf zur Motivationssteigerung. Gemeint sind u.a. Feedback- und Belohnungssysteme. Freyermuth sieht in der Gamification den Schlüssel zur Überwindung der o.g. Schismen und zur Wissensvermittlung durch Spiele.
Nur für ProfisDer Epilog des Werks steht im Zeichen der Akademisierung digitaler Spiele, insbesondere in Deutschland. Zwar können hierzulande bereits Einrichtungen wie das Cologne Game Lab der Technischen Hochschule Köln vorgewiesen werden, das Freyermuth auch vorstellt, jedoch liegt die deutsche Forschung auf diesem Gebiet noch weit hinter ähnlichen Projekten aus anderen Ländern zurück, vor allem den USA und Skandinavien.
Freyermuths Werk ist ausgesprochen theorielastig und erfordert vom Leser zumindest ein gesundes Maß an Kenntnis und Erfahrung mit digitalen Spielen. Es ist daher weniger für einen leichten Einstieg in die Materie geeignet, sondern nur jenen zu empfehlen, die sich ernsthaft mit der Erforschung digitaler Spiele befassen wollen. Davon abgesehen gelingt es Freyermuth allerdings ganz ausgezeichnet, digitale Spiele aus einer frischen, ganzheitlichen Perspektive zu zeigen und interessante Denkansätze über die weitere Zukunft der Game Studies zu vermitteln. Besonders sein Anliegen, neue Forschungsmethoden auf Basis einer Synthese der bereits vorhandenen Ausrichtungen zu entwickeln, könnten für das gesamte Feld von Bedeutung sein. Durch die fehlende Einheitlichkeit und in Ermangelung eines allgemeingültigen und verbindlichen Instrumentariums zur Untersuchung digitaler Spiele, werden die Game Studies sonst stets nur eine Subkategorie geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen bleiben. Ein neues Medium erfordert eigene darauf zugeschnittene Herangehensweisen.
Games | Game Design | Game Studies ist sowohl Pflichtlektüre und exzellenter Orientierungspunkt für angehende Spieleforscher mit Vorkenntnissen und dem Willen, sich tief in die Thematik einzuarbeiten, als auch ein erhellender Ansatz für eine neue Ausrichtung der Game Studies.