Christian Dinger war wieder in der Wiener Theaterszene unterwegs. Heute berichtet er aus dem Garage X Theater – ein Theater, das dem »repräsentativen Habitus« der großen Häuser etwas entgegensetzen will. Auf dem Programm: Elfriede Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften.
Von Christian Dinger aus Wien
Dass Wien eine Theaterstadt ist, braucht hier eingangs eigentlich nicht erwähnt zu werden. Schließlich gibt es hier das Burgtheater, die erste Bühne im deutschsprachigen Raum, bezeichnenderweise direkt gegenüber vom pompösen Rathaus. Und dann kennt man noch die Nebenbühne der Burg, das Akademietheater. Und dann… naja, dann gibt es noch das Volkstheater und das Theater in der Josefstadt, mit denen jedoch die meisten deutschen Stadttheater schon problemlos mithalten können.
Denkt man aber an die kleinere Theaterszene, an politisches Theater oder Projekttheater, dann denkt man eher an Berlin als an Wien. Nicht, dass es hier keine kleinen Theater gäbe. Nur sind diese meist nicht einmal innerhalb der Stadtgrenzen einem größeren Publikum bekannt. Doch seit Kurzem lässt sich hier eine Ausnahme machen: das Garage X Theater am Petersplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk unweit vom Stephansdom. 2009 wurde es von Harald Posch und Ali M. Abdullah in Anknüpfung an ihr Projekt Drama X gegründet und bereits jetzt erregt das Garagentheater im gesamten deutschen Sprachraum Aufmerksamkeit, wird von der FAZ gelobt und das Ensemble wird zu Gastspielen ins Thalia Theater eingeladen.
Der Kontrast zu den repräsentativen Theatern im morbiden Wien, wo das pelztragende Bürgertum sich noch allzu gerne in das vermeintlich bessere k. u. k.-Zeitalter flüchten möchte, ist deutlich zu spüren. Die Spielstätte erinnert tatsächlich an eine Garage, in der nicht mehr benötigte Requisiten und Bühnenelemente gelagert werden. Die überwiegend jungen Zuschauer sitzen auf alten Sofas und trinken Bier oder Afri-Cola, während sie auf den Einlass warten – keine Spur von Sekt und Lachshäppchen.
An diesem Abend gibt es Jelinek. Für das Programm der Garage X ein geradezu klassischer Einschub. Für gewöhnlich sind in der Garage postdramatische und postmigrantische Stücke von bisher noch weitgehend unbekannten Gegenwartsautoren zu sehen, da ist Jelinek schon fast ein Fossil (während man sich andernorts immer noch unglaublich modern und provokant vorkommt, wenn man Jelinek inszeniert).
Die Liebe und das KapitalWas geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften heißt der Bühnenerstling von Elfriede Jelinek. Er erzählt die Geschichte von Ibsens Nora weiter. Was geschah mit ihr, nachdem sie ihren Mann und ihre Kinder verlassen hatte? Die eigentlich interessante Frage, wie das Theaterstück zeigt. Nora versucht es zunächst in der Welt der Arbeit und liefert sich dem vermeintlichen Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Vorstellung von Weiblichkeit und der von körperlicher Arbeit aus. Unerwartet findet sie jedoch bald einen neuen Liebhaber in Gestalt eines erfolgreichen Unternehmers und Spekulanten. Somit betritt Nora die Welt des Kapitals und sieht sich darin einem kalten Nützlichkeitsdenken ausgeliefert. Die Versprechungen der Liebe müssen hier naturgemäß gegen die Versprechungen des Kapitals verlieren. Denn ganz im Gegensatz zum weiblichen Körper gewinnt das Kapital durch ständige Vermehrung an Schönheit.
Jelinek hat mit diesem Stück nicht nur Feminismus mit Kapitalismuskritik verwoben, sondern eine kritische Abrechnung mit der Frauenbewegung der 70er Jahre geschrieben, die in ihrer psychologischen Selbstfindungs-Rhetorik so oft die knallharte ökonomische Realität ausblendete. Bei Jelinek hört die Emanzipation der Frau nicht damit auf, dass sie das Küchenhandtuch schmeißt und aus der patriarchalen Kleinfamilie flieht. Die Absage an das Rollenmodell der braven Hausfrau ist hier nur ein winziger Schritt in einem emanzipatorischen Prozess, dem viel mehr im Wege steht, als nur die kleinbürgerliche Familie, aus der man einfach aussteigen kann. Das Patriarchat wartet ebenso in der Welt der Arbeit und der Welt des Kapitals und in diesen Welten muss Nora mitspielen, wenn sie sich eine Existenz jenseits ihrer Familie sichern will.
So willigt sie ein, ihren verlassenen Ehemann hinters Licht zu führen und ihm in einer schonungslosen Sadomaso-Szene Betriebsgeheimnisse zu entlocken, um ihrem Liebhaber ein ertragreiches Geschäft zu ermöglichen. Doch dieser hat längst kein Interesse mehr an Nora, da ihm bereits klar wird, dass ihr Körper verfällt je älter sie wird. Die einzig unveränderliche Anziehungskraft geht für ihn vom Kapital aus, das niemals seine Schönheit verliert. So landet Nora schließlich über einen Zwischenstopp im Bordell wieder bei ihrem Mann, der selbst bankrott und zerrüttet ist. In der letzten Szene sitzen zwei von gegenseitiger Verachtung und Selbsthass zerfressene Gestalten auf der Bühne. Der große Entschluss Noras ist gescheitert.
Machtdiskurs der ökonomischen IntrigenDas Ensemble der Garage X bringt neben viel Dynamik eigene Textelemente in Jelineks Stück. Diese erzeugen gemeinsam mit den Elektro-Pop-Einschüben der Zwei-Frau-Band Wir haben uns lieb bis eine heult (Verena Dürr und Ulla Rauter) eine Vielstimmigkeit, die den Zuschauer in seinen Bann zieht. Außerdem wird gezeigt, was Brechtsches Theater heute noch kann. Die Schauspieler interagieren mit dem Publikum ohne dass dies zur lächerlichen Pflichtübung wird und signalisieren durch Schilder, die sie sich an die Kleidung kleben, wen sie gerade darstellen. Die Figuren werden austauschbar, die Identitäten verschwimmen im Machtdiskurs der ökonomischen Intrigen. Vor allem aber ist die Garage X ihrem Credo treu geblieben, gesellschaftliche und politische Fragen der Gegenwart aufzugreifen und auf die Bühne zu bringen. Denn auch wenn dieses Stück aus den 70ern stammt, steckt darin gerade jetzt eine enorme Brisanz. Seit langem war das Thema Gleichberechtigung nicht mehr so präsent in den Medien wie heute. Und dennoch werden auch heute die ökonomischen Zusammenhänge der patriarchalen Strukturen größtenteils ausgeblendet.
Forderungen nach symbolträchtigen Gesten wie eine Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen, so sinnvoll und berechtigt eine solche auch wäre, überlagern immer noch die Forderungen nach gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit und einem flächendeckenden Mindestlohn für die meist weiblichen Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Die Fortschritte in puncto Emanzipation, so groß sie auch sein mögen, sind nur bei wenigen wirklich angekommen. Diesen und andere Missstände bringt die Garage X auf die Bühne. Und damit haben sie den meisten Staatstheatern etwas voraus.