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Gefährliche Gedankenspiele

Simone Meiers Kuss erzählt von einem Paar, das unberechenbarer ist, als sein urbanes Leben vermuten lässt. Das geht so lange gut, bis beide Partner*innen über ihre eigenen Gedankenspiele stolpern. Durch geschickte Plot Twists veranschaulicht die Autorin schließlich, dass sich Geduld beim Lesen lohnen kann.

Von Lena Karger

»Emma Bovary lebt« verkündet im Jahr 2000 ein deutscher Literaturkritiker nach der Lektüre von Elke Schmitters Roman Frau Sartoris. Das große Kompliment wird noch imposanter, wenn man weiß, dass der Kritiker Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki persönlich ist. Knapp zwanzig Jahre später scheint Simone Meier mit Kuss zu versuchen, die Romanheldin ein weiteres Mal aus dem Grab zu holen. Die Locken der schönen Gerda sind zwar blond und nicht braun, doch sie ist nicht weniger gelangweilt von ihrem gutmütigen Freund und ihrer unfreiwilligen Hausfrauenidylle. So liest sich Kuss zu Beginn wie die moderne Version eines alten Märchens, das im Gegensatz zu Frau Sartoris zunächst eher uninspiriert daherkommt. Die Figuren wirken uninteressant da klischeebeladen und der Roman droht im Schatten seiner Vorgänger zu versinken. Doch mit der Zeit werden die Geister der vergangenen Heldinnen immer leiser und die in Gerdas Kopf immer lauter.

Sind wir alle ein Klischee?

Das nach außen glücklich verliebte Paar Gerda und Yann ist in sein erstes gemeinsames Haus gezogen, das Gerda in Eigenarbeit von Grund auf renoviert. Mit der Zusage für das Haus kam nämlich auch Gerdas Kündigung. Ihr gutmütig-mittelmäßiger Freund Yann arbeitet mit dem klugen und charmanten Alex zusammen, der vor dem Geld seiner reichen Eltern in eine WG im Rotlichtmilieu flüchtet und sich hier als Möchtegern-Bohème in seine bisexuelle Mitbewohnerin verliebt. Natürlich eine Schauspielerin. In ihrer häuslichen Einsamkeit konzentrieren sich Gerdas Gedanken immer mehr auf Alex und darauf, was sie mit ihm alles machen könnte. So weit, so vorhersehbar.

Dann ist da noch die Nachbarin. Die »alte Krähe«, wie Gerda sie nennt, betrachtet die Dreiecksbeziehung zunächst nur über den Gartenzaun. Die Journalistin Valerie raucht natürlich, hat sich für Karriere anstelle von Liebe entschieden und hält ihre Gefühle fest verschlossen. Nur das Milchreis-Rezept ihrer verstorbenen Oma bringt etwas Milde in ihre sonst harten Züge.

Roman


Simone Meier
Kuss
Kein & Aber: 2019
256 Seiten, 22 €

 
 
Jede Figur für sich genommen entspricht einem Klischee, was von der Autorin vielleicht so gewollt ist. Denn, dass Simone Meier eine kluge Beobachterin ist, beweist sie, sobald die Wege ihrer Figuren beginnen, sich zu kreuzen.

Der Roman wechselt zwischen den Handlungen und Tagträumen seiner Figuren hin und her, die vor allem bei Gerda zu einer Obsession werden. Ihrem Leben scheinen nur ein neuer Job oder ein Baby zu fehlen, um wieder »ordnungsgemäß« zu verlaufen, doch da sie weder das eine noch das andere will, muss mit diesem Leben, ergo mit Yann etwas nicht stimmen. So fantasiert sie sich eine Affäre mit Alex herbei und ist Kraft ihrer Gedanken bald so besessen von ihm, dass sie es darauf anlegt, die Affäre aus ihrem Kopf in die Realität zu verlegen. Yann scheint von alldem nichts mitzubekommen, bemerkt jedoch eine Veränderung in Gerdas Verhalten und distanziert sich seinerseits gedanklich von ihr. Er entdeckt neue Seiten an seinem sonst so zuverlässigen Charakter und beginnt sich für die mysteriöse Nachbarin zu interessieren, die auf ihn wie eine französische Film-Diva wirkt. 

Achtung! So leben wir

Simone Meier legt mit Kuss ein Register an Lebenskonzepten vor, die so divers sind, wie die Zeit, in der wir leben. Denn eigentlich kann heute in Deutschland jede*r so leben und lieben, wie er oder sie will: homosexuell-polyamourös, konservativ-hetero-monogam, als wilder Sex-Single oder als melancholischer Intellektuellen-Single. Und doch scheint die große Freiheit an der Überforderung mit uns selbst zu scheitern. Das vermag Simone Meier durch die Innenwelt ihrer Figuren eindrücklich zu schildern. Die Autorin ist immer dann stark, wenn sie Menschsein durch Bilder und Gedanken vermittelt.

Schwächer wird sie in ihren Gesellschafts-Beschreibungen, wenn sie zum Beispiel die heutige Zeit so unbedingt erkennbar machen will, dass es konstruiert erscheint. Gerdas Flirt mit ihrer imaginären Affäre findet über Facebook statt, im Fernsehen laufen durchgängig schlechte deutsche Reality-Serien und Berlin ist bevölkert von promiskuitiven Hipster-Gören und schönen Männern mit Gin-Start-Ups. Die Hinweise auf das heutige Deutschland sind so laut, dass die Leserin permanent daran erinnert wird, einen Roman zu lesen, anstatt sich in ihm zu verlieren.

Auf den zweiten Blick

Dennoch erzählt die Autorin eine interessante Geschichte. Sie zeigt eindrücklich, wie schnell die innere Welt Einfluss auf das Außen nehmen kann und destruktive Gedanken nach der Wirklichkeit greifen, wie Schimmelpilz unter der Tapete. Die Bekämpfung der Infektion wird anschließend nicht im Innern, sondern im Außen vorgenommen: Neue Menschen, neue Partner müssen her, dann wird alles anders, dann wird alles gut.

Fast 200 Jahre nach Emma Bovary haben die Figuren in Meiers Roman also nicht viel dazugelernt gelernt, was Flaubert ehrt und die Menschheit beschämt. Die Figuren wirken zwar zu Beginn wie Stereotype, ihr Bild verfeinert sich aber auf den zweiten Blick und sie überzeugen im Zusammenspiel. Die Autorin zeichnet feinfühlig die Fragilität von Beziehungen nach und trumpft am Ende mit dem Charme eines guten Witzes auf: dem Überraschungseffekt. Die Liebe läuft nicht wie erdacht und ehemals banale Charaktere entfalten ungeahnte Potenziale. Gedanken und Wirklichkeit werden zu einer diffusen Mischwelt verwirbelt. Zum Schluss gleicht die Geschichte einer sich während des Fluges langsam öffnenden Flugzeugtür, die den Lesenden in ein rauschendes offenes Ende hinauszieht.

Meiers kluge Gedanken bleiben noch lange nach der letzten Seite haften und machen den Roman trotz leichter Konstruiertheit sehr lesenswert.



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 Veröffentlicht am 11. März 2019
 Kategorie: Belletristik
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