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Heller, immer heller

Wie ein ›Bilderbuch ohne Bilder‹: Zsuzsa Bánks Roman Die hellen Tage macht ein synästhetisches Spiel aus Farben und Formen zu Literatur und entwickelt sich darüber vielmehr zum großen Aquarell als zur komplexen Erzählkomposition. Ein Konzept der Intuition und eine Absage an die Strategie.

Von Lukas Nestvogel

Zsuzsa Bánk verzaubert mit ihrem Roman Die hellen Tage nicht nur den Leser, sondern zeigt eine deutsche Szenerie so liebevoll, wie wir es in diesem Jahr noch nicht gesehen haben.

Wir müssen uns im Sommer begegnet sein, im Sommer, der Aja umgab, als gehöre er ihr, als gehörten sein Licht sein Staub, seine langen, hellen Abende ihr, und durch den sie sich ohne Jacke und Schuhe, mit einem gelben Hut, den sie im Schrank ihrer Mutter gefunden hatte, bewegte wie durch ein großes, lichtes Haus, dessen Zimmer ohne Türen ineinander liefen.

Genau in diesem Augenblick, in dem Aja ins Leben der Erzählerin tritt, beginnt auch für den Leser ein Schweben durch Raum und Zeit. Und mit Aja, der Hauptperson des Romans, um die sich das Beziehungsgeflecht aller Protagonisten rankt, beginnt der Leser einen schwebenden Tanz durch zwei Jahrzehnte und eine helle Welt, wie er sie in Deutschland gar nicht gekannt hat. Denn die von Bánk beschriebene Kleinstadt-Idylle Kirschblüt (nahe Heidelberg gelegen) ist so mit Sonne und Licht aufgeladen wie es der mitteleuropäische Leser sonst nur von mediterranen Schauplätzen her kennt.

Impressionistisches Aquarell

Und doch schwebt die Geschichte oder, wie es Andreas Isenschmid im Gespräch mit der Autorin selbst so pointiert beschreibt: »Nicht die Chronologie bestimmt den Fluss des Romans, sondern die Bilder und Szenerien, die wie in einem impressionistischen Aquarell ineinander fließen.« Im Interview mit Isenschmid von 3sat auf der Leipziger Buchmesse am 17.3.2012 sagt Bánk selbst, dass sie ein Jahr mit der Überarbeitung ihres Romans zugebracht hat, und dies merkt der Leser eben, indem er es nicht merkt.

Scheinbar mühelos gleitet er über die 540 Seiten hinweg. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass keine Jahreszahlen genannt werden und die erzählte Zeit sich nur ungefähr anhand der Jahreszeiten bestimmen lässt, die ebenfalls ineinanderfließen und übergehen. Und so schwebt nicht nur Aja durch den Sommer wie »durch ein Haus ohne Türen«, sondern auch vor dem inneren Auge des Lesers entstehen eine Bilderflut als ob zwei Filmszenen ineinander übergeblendet werden.

Reales Märchen

Und gerade deshalb scheint der Roman Bánks nicht konstruiert, sondern trotz der märchenhaften Sprache irgendwie real, so wie Kindheit uns wie ein Märchen erscheint und in einen milchigen Schleier des Gestern getaucht ist und doch bisweilen real hervor blinkt. Bánk selbst betont, wie wichtig es für den Schaffensprozess des Romans war, die Bilder vor ihrem inneren Auge zu sehen, sodass beim Übersetzen der Farben in Worte sich die Handlung wie von selbst entspann und auch die Autorin selbst von den Bildern hinweg getragen wurde. Bánk betonte in dem Interview gegenüber 3Sat, dass sie bewusst keine Konzeptkunst betreibe. Es ginge um den Fluss der Zeit, der Orte, der Beziehung, der Selbstfindung, gemeinhin ums Schweben.

Und so ist es nur passend, dass die Schriftstellerin auf die Frage, mit den Bildern welches Künstlers sie ihre Arbeit vergleichen würde, mit Cézanne antwortet. Denn wie bei dem französischen Impressionisten ist Bánks Opus von zwei Prinzipien durchdrungen: dem Ineinanderfließen der Farben und den omnipräsenten Dreiecken.

Sommer mit Schatten

Denn Dreiecke definieren auch die Figurenkonstellationen im Roman. Es sind zwei Dreieckskonstellationen, zwei Schicksalsgemeinschaften, die dem Roman seine Form geben. Im Vordergrund stehen die drei Kinder: Aja, das Kind einer ungarischen Artistenfamilie, die im beschaulichen Kirschblüt ein neues Leben sucht und so anders ist als die Alteingesessenen. Dann sind da noch Erzählerin Sari, die von der Lebhaftigkeit und Lebensfreude Ajas angezogen ist und Karl, der später dazustößt und mit seiner introvertierten und stillen Art das Trio komplettiert. Alle drei sind fröhlich, erleben sonnige Kindertage und spazieren leichten Fußes über die staubigen Wege und grünen Wiesen von Kirschblüt. Doch wie zu einem Sommerbild Schatten dazugehören, ist ihre Freude nie ungetrübt, denn sie alle kämpfen schwer mit einem persönlichen Verlust, jeder auf eine andere Art.

Bei Aja ist es die Beziehung zum Vater. Sie leidet furchtbar darunter, dass Zigi, ein ungarischer Artist, der in Amerika lebt, nur für ein bis zwei Monate im Herbst bei seiner Familie sein kann. In dieser Zeit lebt sie auf – und mit ihr alle anderen Protagonisten des Romans. Der Garten von Ajas Haus wird dann zum Zentrum des Mikrokosmos, den Bánk in ihrem Roman schafft. Wenn alle vereint und verzaubert sind im Anschauen von Zigis Kunststücken, dann scheint die Welt in Ordnung und der Leser sieht sich selbst wieder als Kind im Zirkus staunen. Doch wenn sich Zigis Abschied ankündigt, leiden Aja und ihre Mutter fürchterlich. Und nur langsam können sie ihre Blick weg von der Trauer über den Abschied hin auf das Wiedersehen im neuen Jahr richten.

Sari kämpft mit dem Verlust ihres Vaters und der Trauer ihrer Mutter. Zwar ist der Vater gestorben, als sie noch klein war, aber trotzdem fehlt ihr die väterliche Wärme, weil v.a. ihre Mutter schwer mit dem plötzliche Tod ihres geliebten Ehemannes – verursacht durch eine Herzattacke – zu kämpfen hat und als Trauerbewältigung die Spedition ihres Mannes mit vollem Einsatz weiterführt. Darunter leidet zwangsläufig die Beziehung zu ihrer Tochter Sari, die mehr und mehr Ajas Haus zu ihrem Zuhause macht und in Ajas Mutter Eva ihre eigentliche Bezugsperson sieht.

Zwei Sekunden

Karl leidet von den drei Kindern wohl am meisten unter einem persönlichen Verlust. Sein kleiner Bruder verschwand in einem unbeobachteten Moment, in dem ein fremdes Auto durch den sonst so stillen Ort fuhr, eine Beifahrertür geöffnet wurde und Karls kleiner Bruder nicht mehr wieder gefunden wurde. Als Folge dieser Tragödie begeht der Vater einen Selbstmordversuch und die Ehe von Karls Eltern zerbricht. Einst eine der angesehen Musterfamilien in der Kleinstadt, zerbricht der Familienverbund völlig. Wie auch Sari zieht es Karl raus aus der Enge der Stadt, wo alles so perfekt scheint, weg vom elterlichen Leid und hin in das kleine schiefe Häuschen von Aja und ihrer Mutter Eva. Weg von der Fassade heiler Kleinbürgerlichkeit, hin in den verwilderten Garten und zum weiten Blick auf die Felder. Weg von der Realität, hin zum Blick durch die Linse seiner Kamera, immer bereit, den Augenblick, zwei Sekunden, einzufangen. Denn das ist die Zeiteinheit, die für Karl alles bestimmt: Zwei Sekunden. Denn in zwei Sekunden stieg sein Bruder in das fremde Auto ein und die Welt seiner ganzen Familie war zerstört.

Buch-Info


Zsuzsa Bánk
Die hellen Tage
S. Fischer: Frankfurt 2012
544 Seiten, 21,95 €

 
 
Ebenfalls durch die Schicksalsgemeinschaft aneinander gekettet sind die Mütter. Der Fixpunkt in diesem Trio ist Eva – wie ihre Tochter Aja im Dreieck der Kinder. Obwohl sie weder lesen noch schreiben kann und allen Konventionen des gutbürgerlichen Kirschblüts entgegensteht, besitzt sie eine Fülle von innerer Wärme, die die Menschen in ihrer Umgebung heilt. Schon bald ist sie die eigentliche Mutter von Sari und Karl und langsam beginnen auch deren Mütter den Kontakt zu Eva zu suchen. Und während der Garten Evas den Kindern ein Stück geschützte Kindheit zurückgibt, ist der Küchentisch Evas das Refugium der Mütter, an dem sie den Trost und Schutz finden, der ihnen durch persönlichen Verlust genommen wurde. Laut Bank verkörpern die drei Frauen die archetypischen Grundsätze der Weiblichkeit. Schönheit, Unabhängigkeit, Wärme.

Und so ergänzen sich die zwei Dreiecke von Kindern und Müttern, denn alle sind von gleichen Schicksalsschlägen getroffen und alle lernen immer mehr, dass das gemeinsame Ertragen und Genießen das Leben reicher macht. Bánk führt dieses Bild der beiden mit- und untereinander verwoben Dreiecke zum Ende ihres Romans hin in einer wunderschönen Handlungsaussage, ja Metapher, aus: dem gemeinsamen Aufbruch in eine neue Welt. Die Kinder mieten zusammen eine Wohnung in Rom. Aja studiert dort Medizin, Seri arbeitet als Übersetzerin und Karl mausert sich mehr und mehr zu einem Fotografen. Denn in den zwei Sekunden, in denen er ein Bild macht, kann er die Zeit anhalten und eine schwache Hoffnung gewinnen, wenigstens einen kleinen Teil seines Bruders wieder zu gewinnen.

Und während das Dreieck der Kinder auch in Rom intakt bleibt, trösten sich die Mütter zu Hause über den Verlust hinweg und reisen schließlich zusammen in die italienische Hauptstadt. So verlassen sie – verbunden durch ihre Kinder, ihre alte, enge Welt – und brechen auf in ein neues Leben.

An echten Sommer glauben

Wie Bánk diese Handlungsaussage vermittelt, ist typisch für die Stärken ihres Romans. Sind üblicherweise Kinderszenerien und Dreickseckskonstellationen oftmals aufgeladen und kitschig, ja geradezu ›pilchersch‹, so kann sich Bank diese altbekannt-klassische Konstellation erlauben. Denn dadurch, dass der Leser strudelartig in den Kokon der Dreiecke hinein gesogen wird und Bank ihren Ton konsequent durchhält, werden die Bilder des Romans nie kitschig, weil sie eben schweben und spielerisch daherkommen.

Wer in Die hellen Tage auf komplexe Handlungsstränge wartet, wird enttäuscht die Lektüre abbrechen. Denn was diesen Roman so besonders macht, ist, dass der Fluss des Textes und damit die Leselust nicht durch die Handlung vorangetrieben wird, sondern das Erwachsenwerden und das Reifen der Protagonisten in einer anmutigen, niemals enden wollenden Bilderfolge entfaltet wird. Wer aber Farben und zart gezeichnete Impressionen liebt, wird sich nicht dagegen wehren können, im Nu von Bánks Erzählfluß durch die 540 Seiten getragen zu werden – und danach auch in unseren Breitengeraden an echten Sommer glauben.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 12. November 2012
 Kategorie: Belletristik
 Bild von schroeder_hro via flickr
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