Goethes Hermann und Dorothea war dieses Semester an der Göttinger Uni Thema eines Seminars. Zu einer szenischen Lesung des Epos lud das Berliner Ensemble am 3. März zwei Gäste des Wiener Burgtheaters ein. Trotz eines einfallslosen Mauerschau-Marathons wurden die knapp zwei Stunden nie langatmig.
Von Stefan Walfort
»Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!«1 Sei es in dieser Xenie, in dem Drama Iphigenie auf Tauris oder dem Versepos Hermann und Dorothea ‒ wer über das stets aufs Neue angerufene Humanitätsideal hinwegblickt, verkennt die Essenz des Goethe’schen Schaffens.2 Blindheit für subversives Potenzial erklärt, warum der Publikation Hermann und Dorotheas 1797 eine hanebüchene Rezeptionsgeschichte folgte. Ab 1813 dominierten Assoziationen an den von Tacitus begründeten Germanenmythos, an Arminius, auch Hermann genannt, den vermeintlich »erste[n] historisch fassbare[n] Deutsche[n]«.3 Goethes Hauptfigur hielt her für die Mobilisation gegen die Truppen Napoleons. Das Werk avancierte »zu einem Kultbuch des deutschen Nationalismus«.4 Absurd ist das vor allem, weil eine Kriegsbegeisterung Hermanns nur ein Ausdruck adoleszenten Gehabes ist und so schnell wieder verschwindet, wie sie über ihn hereinbricht. Wer sie als Identifikationsangebot versteht, sitzt einem Irrglauben auf.
Deutlich mehr Raum räumt Goethe Hermanns Schwärmerei für das Flüchtlingsmädchen Dorothea ein. Flüchtende, getürmt vor den Unruhen der französischen Revolution, konfrontieren deutsche Kleinstädter mit Chaos und Elend. Zwar strecken sich viele helfende Hände aus. Doch es gibt auch Typen wie den Apotheker, der knausert, der Ausflüchte sucht und dann schweren Herzens ein wenig Tabak lockermacht. Es gibt auch Figuren wie den von Ressentiments befangenen Richter. Dank der Debatten über die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht von 2015 wirken seine Worte enorm aktuell. Indem er über die Flüchtenden im Kollektivsingular spricht, negiert er jegliche Pluralität: »Nichts ist heilig ihm mehr; er raubt es. Die wilde Begierde / Dringt mit Gewalt auf das Weib und macht die wilde Lust zum Entsetzen.« Anlässe, zu glauben, Goethe goutiere solche Plattitüden, gibt es nicht. Im Gegensatz zu Pegida und Konsorten lässt sich der Richter sogar eines Besseren belehren. Alles ist auf Entlarvung hin konzipiert.
Neben dem symbolträchtigen Birnbaum gibt es in Hermann und Dorothea eine Kneipe namens »Goldener Löwe«, eine Apotheke »zum Engel«; selbst Gartenzwerge dürfen nicht fehlen. In dem, was einst als »›Kitsch‹« beargwöhnt worden ist5, die Ironie zu erkennen, fällt heutzutage nicht mehr schwer. Dass sich schnell herauskristallisiert, welches Eigeninteresse die BürgerInnen hinter ihrer Großzügigkeit zu verstecken suchen, deutet ebenfalls auf Goethes Distanz hin. Wer sich fragt, warum die sogenannte »Willkommenskultur« so schnell suspendiert werden konnte, wird fündig beim Vergleich der eigenen Gemütslage mit der schlecht kaschierten solcher Figuren. Sogar Hermann, der an Dorothea festhält, obwohl sie nicht den Ansprüchen seiner Eltern genügt, macht aus seinem Egoismus kaum einen Hehl. Dankbarkeit ist, was er von ihr will, und nur vorgeblich Liebe.
Nichts für junges Publikum?Gegenwärtig spielt Hermann und Dorothea, vom einstigen Bestseller zur Schleuderware heruntergekommen, selbst für Fachleute kaum mehr eine Rolle; darin ist sich die Germanistik weitgehend einig. Dementsprechend konstatiert Dirk Oschmann einen »erheblichen Rechtfertigungsdruck« zugunsten von Ambitionen, den Text wieder hervorzukramen.6 Dem für die künstlerische Leitung verantwortlichen Alfred Kirchner, einem langjährigen Weggefährten des Intendanten Claus Peymann, gelingt es mit der Aufführung von Hermann und Dorothea am BE trotz der Aktualität des Themas nicht, den Druck zu mildern. Das im Programmheft bekundete Anliegen Kirchners verträgt sich zwar prima mit Goethes Humanitätsideal. Er wolle dazu anregen, sich an einem »durch die Kraft der Poesie ermutigende[n] Modell« zu orientieren ‒ einem »Modell einer beweglichen und menschlichen Gesellschaft […], die das Fremde zu integrieren in der Lage« sei. Auch mit Peymann selbst gibt es vermutlich nicht den geringsten Dissens. Konstant hält der nämlich an dem Glauben fest, »Theater könne die Welt verbessern«.7 Die Wahl des Werkes mit den inzwischen befremdend wirkenden Hexametern eignet sich aber wie kaum eine andere, um junge Menschen zu vergraulen, erst recht, wenn sie über wenig Leseroutine verfügen. Der Altersdurchschnitt des Publikums von etwa Fünfzig verwundert also kaum. Ob sich die Tendenz langfristig gesehen beheben lässt? Wünschenswert wäre es. Allerdings hat sich Peymann noch nie der Illusion hingegeben, Theater könne Milieus erreichen, »die mit Bildungsprivilegien nicht ausgestattet sind«.8 Es ist eine Attitüde, die bequem ist, eine, die ihm nichts abverlangt. Zu glauben, so kurz vor seinem Abschied im kommenden Sommer werde er an der bisherigen Linie etwas ändern, wäre töricht. Im Gegenteil, mit Goethes Anleihen am Homerischen demonstriert das Enfant Terrible der deutschen Theaterlandschaft9 noch einmal, nach welcher Größe es strebt. Die Messlatte für den schon seit Monaten angefeindeten Nachfolger Oliver Reese hängt nun umso höher.
Ein sprechendes GemäldeAlles auf der Bühne ist in tiefblaues Licht getaucht, der Boden von einem Teppich elektrischer Teelichter überzogen. Im Hintergrund glitzert auf einer Leinwand das Meer im Sonnenlicht. Eingeblendet werden unter anderem Verse aus dem Fünften Gesang der Odyssee, und wenn die Burgtheater-Schauspielerin Maria Happel als Dorothea wehmütig ihren Blick über das Wasser in die Ferne schweifen lässt, stellt sie Parallelen her zwischen ihrem Schicksal und dem des in der Grotte der Kalypso festsitzenden Odysseus, der sich nach seiner Penelopeia sehnt. Viel Spiel bieten Happel und Martin Schwab leider nicht. Ins Zentrum rücken sie Goethes kunstvolle Verse. Vieles machen sie wieder wett, indem sie mit glasklarer Stimme deklamieren, selbst dann kaum eine Silbe verschlucken, wenn Emphase erforderlich ist oder sie den Bericht über den in einen Graben rutschenden Flüchtlingstreck im permanenten Sprecherwechsel vortragen wie bei einem an Rasanz zunehmenden Ping-Pong-Spiel, so dass der Eindruck sich überschlagender Ereignisse entsteht. Auch die von Einfallslosigkeit zeugende Mauerschau in insgesamt sechs Variationen wird dadurch verzeihlich.
Vom Parkett aus gesehen zur Linken gibt es eine mit bunten Kränzen geschmückte Holzleiter, um deren Sprossen sich Efeu rankt. Während des Lesens legen die beiden immer wieder feierlich Kränze zu Boden. Einen hängt Schwab in das Meer auf der Leinwand. Einen streift er Happel aufs Haupt, als sie gerade in der Rolle der Dorothea auf einem Klavier klimpert. Es gibt neun dieser Kränze, zu Ehren der Musen, denen Goethe je einen seiner Gesänge widmet. Sämtliche Übergänge werden mit Musik untermalt. Mal ertönt Werner P. Pirchners Mit FaGottes Hilfe, mal singt Happel aus Pablo Nerudas und Mikis Theodorakisʼ Canto General und erntet dafür Zwischenapplaus. Zur Rechten ruht auf einer Staffelei Eugen Napoleon Neureuthers Hermann und Dorothea in Öl auf Leinwand. Es zeigt, wie das Paar auf dem Weg zu Hermanns Elternhaus unter dem Birnbaum eine Verschnaufpause einlegt ‒ nur kurz, denn es naht ein Unwetter. Das Licht wird gedimmt. Einzig das Gemälde bleibt erleuchtet. Happel und Schwab positionieren sich wie das Paar auf der Leinwand, er vor ihr, sie hinter ihm. Ganz leise ist aus der Ferne Gewittergrollen zu vernehmen. Die Illusion ist perfekt; es scheint, als sprächen statt Happel und Schwab die Gemalten miteinander.
Hermann belügt Dorothea. Weil er sich nicht traut, seine Verliebtheit zu gestehen, schon gar nicht den Plan, sie zu heiraten, gaukelt er ihr vor, sie dürfe daheim als Magd für seine Familie schuften. Als sein Vater gleich beim ersten Kennenlernen Tacheles redet, zeitigt das natürlich allerhand Zoff. Dennoch endet vorerst alles versöhnlich. Ob jedoch Hermanns Hoffnung auf ewige Dankbarkeit Dorotheas eine tragfähige Basis für eine gemeinsame Zukunft ist, bleibt fragwürdig. Zudem sondert Hermann am Schluss noch einmal sein mit überdrehtem Pathos angereichertes Kriegsgeschrei ab. Besitzergreifend tönt er:
Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. / Nicht mit Kummer will ichʼs bewahren und sorgend genießen, / Sondern mit Mut und Kraft. Und drohen diesmal die Feinde / Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen. Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, / Oh so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen.
Selbst solche Passagen eignen sich nicht, um sie ideologisch zu instrumentalisieren. Sie sind nicht anders zu werten als schon vorherige nicht ernstzunehmende. Hermann bedient sich nur einer »Patrioten-Maske«. Dahinter steckt als Konzept, sie abzuschminken.10
Von Vergil über Gessner zu GoetheEin Gespür für Goethes ironisierenden Ansatz entwickelten auch die Studierenden, die in diesem Semester das entsprechende Seminar an der Göttinger Universität gewählt haben. Zum Programm gehörte neben Hermann und Dorothea unter anderem der Rekurs auf die deutsche, von Salomon Gessner begründete Idyllen-Tradition und auf die ersten anti-idyllischen Elemente, die Johann Heinrich Voß’ Luise auszeichnen. An dessen Gesellschaftskritik knüpft Goethe an. Das Flüchtlings-Motiv lässt sich bis in die römische Antike zurückverfolgen: In der ersten Ekloge der Hirtengedichte Vergils, der Bucolica, gibt es den vor den Landvertreibungen des Kaisers Octavian geflohenen Meliboeus. Auf den einheimischen Tityrus reagiert er mit Anklagen, weil Tityrus die Götter für die Pracht der Natur und die vielen Gaben lobpreist. Er zerfließt in Selbstmitleid und beneidet Tityrus und weist dennoch jedes Gefühl von Neid weit von sich. Schon den Menschen um etwa 40 v. Chr. drängten sich also Fragen nach dem Umgang mit Flucht und ihrem Konfliktpotenzial auf. Das bestätigt, was Dirk van Laak im Interview mit der ZEIT hervorhebt: »Die Vorstellung, der Mensch müsse heimatverbunden und sesshaft leben, behaglich und bestimmt durch eine Leitkultur ‒ das geht mit den Wirklichkeiten weiter Phasen der Geschichte einfach nicht konform.«11 Weder mit Vergil noch mit Goethe lässt sich eine völkische Renaissance rechtfertigen. Im Gegenteil, so wie bei Goethe der Unterschied zwischen der Herkunft Hermanns und der Dorotheas überbrückbar ist, so ist er es letztlich bei Vergil zwischen Tityrusʼ und Meliboeus’. Das Streben nach Gesellschaftsformen, in denen ein menschliches Miteinander möglich ist, macht diese Werke wertvoll, so voraussetzungsreich der Zugang auch scheinen mag. Ihn trotzdem zu finden, wäre gerade jungen Menschen zu wünschen.