Peter Simonischeck und Michael König lesen Thomas Bernhards Städtebeschimpfungen. Gerade in Göttingen, einer mit Gedenktafeln gepflasterten Stadt, ist ein solcher Abend ein erfrischender Beitrag zum diesjährigen Literaturherbst. Eine unterhaltsame Mischung aus Wut, Politik und intelligentem Humor.
Von Gregor Schipp
Warum sich einen ganzen Abend lang Städtebeschimpfungen anhören? Wer nicht bereits Bernhardianer*in ist, für den klingt die Textsorte Städtebeschimpfung aufs erste Hören hin möglicherweise etwas eintönig.
Der vom Suhrkamp Verlag herausgegebene Band Städtebeschimpfungen, aus dem gelesen wird, ist eine Zusammenstellung von Textstellen, die unterschiedlichen Romanen, Erzählungen und Dramen, aber auch Reden und Briefen des Autors entnommen sind. Diesem Umstand werden die beiden Burgschauspieler Peter Simonischeck und Michael König, die für die Veranstaltung aus Wien angereist sind, auf eindrucksvolle Weise gerecht: Immer wieder gelingt es ihnen, sich sofort auf die Form des jeweils vorgetragenen Textes einzustellen und dessen Pointen treffsicher herauszuarbeiten.
Großmeister des Hasses?Der »Großmeister des Hasses« zeigt sich vor allem in Briefen, die Bernhard in den 1970er Jahren an seinen Verleger Siegfried Unseld schreibt. In einem solchen wird beispielsweise die Stadt München beschimpft: Dort hatte der Autor in den Münchner Kammerspielen eine, wie er es nennt, »hundsgemeine Hinschlachtung eines meiner Theaterstücke« mitansehen müssen. Die Dramaturgen sind in seinen Augen nicht mehr als »ordinäre Provinzidioten«, er vergleicht sie unter anderem mit einer »unterbesetzten Polizeimusikkapelle«, die sich an einer Beethovensymphonie versucht hat. Peter Simonischeck, der einer breiteren Öffentlichkeit durch Maren Ades Film Toni Erdmann bekannt geworden ist, trägt den Brief als eine apodiktische Hassrede vor: In immer neuen Wogen brechen rhythmisch kunstvolle Satzkaskaden über Unseld herein, der Bernhards Stück Der Ignorant und der Wahnsinnige für die Münchner Kammerspiele freigegeben hatte.
Ganz anderer Art ist die Beschimpfung Augsburgs: Hier lässt Simonischeck eine Theaterszene entstehen: Er nimmt sich Zeit, arbeitet die Charakteristika der Figuren heraus, gibt ihnen jeweils individuelle Stimmen. Auch einzelne Passagen innerhalb der Szene, wie zum Beispiel einen seitenlangen Dialog über die stoffliche Beschaffenheit einer Mütze, entwickelt er mit der nötigen Ruhe. Nur so offenbart sich die feine Komik des Textes, die erst durch das gut abgestimmte Zusammenspiel von Klang, Rhythmus und Timing entsteht. Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Drama Die Macht der
König und Simonischeck werden nun zu gemeinsamen Archivarbeitern: König liest in nüchternem bis latent aggressivem Beamtenton einige der öffentlichen Reaktionen vor. Simonischeck hört zu, nickt, schmunzelt manchmal. Es handelt sich bei den Texten vor allem um leidenschaftliche lokalpatriotische Äußerungen verschiedener Bürgermeister, Stadträte und Kulturreferenten Bayerns. An einer Stelle lacht Simonischeck sogar laut auf: Der Landtagsabgeordnete Augsburgs schreibt in einem offenen Brief an den bayrischen Ministerpräsidenten: »Augsburg ist die drittgrößte Stadt Bayerns. Eine Beleidigung unserer Stadt ist auch eine Beleidigung unseres Freistaates Bayern.« Während Unseld sich in einem beschwichtigenden Antwortschreiben an den Augsburger Oberbürgermeister auf die Unterscheidung zwischen Autor und Figur beruft, lässt Bernhard diese durch eine Äußerung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wieder verschwimmen:
Eine Frage der intellektuellen UnabhängigkeitVon Lissabon aus empfinde ich Augsburg noch elementarer scheußlich als in meinem neuen Theaterstück. Mein Mitgefühl mit den Augsburgern und allen in Europa, die sich als Augsburger verstehen, ist ungeheuer grenzenlos und absolut.
In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises äußert er sich dann über die Bewohner des österreichischen Ortes Goldegg-Weng: »Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie, wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen.« Im Laufe des Abends drängt sich immer stärker das Groucho-Marx-Paradoxon »I don’t care to belong to any club that will have me as a member« auf. Bernhard bzw. seine Figuren scheinen eine gewisse Dynamik im eigenen Denken erhalten zu wollen, die durch die Zugehörigkeit zu staatlichen und städtischen Institutionen zu erstarren droht. In seinem Roman Wittgensteins Neffe heißt es passend:
nur im Auto und auf der Fahrt bin ich glücklich, ich bin der unglücklichste Ankommer, den man sich vorstellen kann (…) Ich gehöre zu den Menschen, die im Grunde keinen Ort der Welt aushalten und die nur glücklich sind zwischen den Orten, von denen sie weg und auf die sie zufahren.
Nach einer Stunde haben die Beschimpfungen ein Ende. Das Publikum ist begeistert und bittet Simonischeck und König noch mehrmals auf die Bühne. Eine Zugabe gibt es nicht. Im Gedächtnis bleibt, dass die beiden es mit der Wut und dem Hass gerade nicht übertrieben haben, sondern immer aufs Neue in der Darstellung der Texte eine geschmackvolle Schlichtheit gefunden haben.