Mit Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman bietet Petra Piuk nicht nur eine Gebrauchsanweisung zum Schreiben von Heimatromanen ex negativo, sie wagt auch den Blick hinter die Kulissen von Heimatentwürfen aus der Schlagerlied-Welt. Sie macht damit schmunzeln und schaudern.
Von Katrin Wellnitz
1. Die EinleitungIm Frühjahr jedes Jahres wird Mannheim mit dem Literaturfest »lesen.hören« zur Literaturstadt. Neben vielen anderen spannenden Gästen trat in diesem Jahr auch die österreichische Autorin Petra Piuk vor ein Publikum und sprach mit Cordula Stratmann über ihren Roman Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman, mit dem sie den Wortmeldungen-Preis 2018 gewann. Dabei geht es um eine österreichische Dorfheimat, die kuschelig-grausam verschleiert und gleichsam offenbart, was sich jenseits von Schlagertext-Idyllen abspielt. Eine gute Gelegenheit, verlorengeglaubten Heimatentwürfen nachzuspüren.
2. Die AnleitungSchon das Cover von Piuks Roman kündigt an, dass es sich um ein kontrastreiches Buch handelt: der Umschlag in kräftigen Farben gehalten,
Dass Piuk mit scharfer Zunge Stereotype hochnimmt, die Heimat-Schwelgereien und -Traditionen prägen, wird schon in den Vorwörtern der Dorfbewohner sowie »der Frau Schriftstellerin« offenkundig. Doch an dieser Stelle ahnen die Leser*innen noch nicht, was bzw. wer da noch alles auf sie zukommen wird. Doch zunächst zum Inhalt. Erzählt wird die Geschichte von Toni, der als »fescher Dorfheld« in dem idyllischen Dorf Schöngraben an der Rauscher aufwächst. Schon seine Geburt steht unter einem guten Stern: »Bei meiner Geburt zerfetze ich mit meinem Riesenschädel der Mama beinahe den Unterleib. Die Mama schreit wie eine Sau, die abgestochen wird.« Darauf erhält der neugeborene Held erst einmal einen Schlag auf den Rücken und lernt eine wertvolle Lektion, die sich leitmotivisch durch den Roman bewegt und sich mit jedem Kapitel steigert: »EINE WATSCHEN IST GESUND.« Eine Weisheit neben vielen, die sich, damit wir sie unbedingt behalten, versal verhält. Und wer nicht weiß, was Watschen sind, der würde hinter dem Wort eher ein Stück gutes Gebäck als so etwas Unerfreuliches wie eine Ohrfeige vermuten. Aber immerhin sind Ohrfeigen doch harmlos – oder? Es geht, das lernen wir gleich, ganz gemütlich zu in Schöngraben an der Rauscher und es könnte beinahe traurig stimmen, dass es sich dabei lediglich um einen fiktiven Ort handelt.
Sehr schön ist, dass die Erzählerinnen der Heimatgeschichte für jeden Heimatmoment die richtige musikalische Untermalung haben, die ihnen das fiktive Radio Schlagerglück zuspielt. Texte von Hansi Hinterseer, G.G. Anderson, Uwe Busse u.a. finden ihren Platz im Roman und spannen das Geschehen in einen liebevollen Rahmen.
Wer fühlen will, muss hörenUnd einen solchen Rahmen braucht es, denn sonst würde die Anleitung zum Heimatroman sich verselbständigen und dem Helden Toni sein glückliches Ende vorenthalten. Mindestens eine der Erzählerinnen, die sich nicht nur in Fußnoten, sondern auch im Haupttext immer wieder einschalten und poetologische Aspekte reflektieren, lässt sich nämlich gerne dazu verleiten, das Konzept Heimatroman zu hinterfragen. Dabei ist die Anleitung eigentlich leicht zu begreifen: Am Ende gibt es schöne Musik und die Hochzeitsglocken läuten – ganz so, »wie sich das in einem schönen Heimatroman gehört.« Doch die aufmüpfige Erzählerin Petra Piuk, deren Blick immer wieder hinter die idyllischen Kulissen rutscht, ist hier nicht die Einzige, die gegen traute Heimat und selige Geborgenheit rebelliert. Zwar sind die Bewohner Schöngrabens, die sich keinesfalls gendern lassen, bemüht, ihre Rollen als gute Heimatroman-Helden angemessen umzusetzen, sie scheitern jedoch kollektiv. Denn hinter den Kulissen gärt die Gewalt und bricht die schöne Heimat von innen auf. Dazu bedarf es in Schöngraben keiner Bedrohung von außen, denn die Schöngrabener schaffen den Sprung vom gesunden zum ungesunden Watschen auch von ganz allein.
Mannometa!Lakonisch und unbedarft berichtet der Held Toni aus seiner eigenen Familienidylle und wirft dabei Seitenblicke auf das recht ebenbürtige Idyll der anderen. Schnell lässt sich durchschauen, dass das ganze Dorf von einem Netz aus Gewalt umspannt ist und dass die Versuche, dies zu vertuschen, zu wiederum neuen Gewalttaten führen. Der Roman ist dabei nicht nur ein gesellschaftskritischer Verriss von Heimatformaten, er bietet auch Kriminalroman-Qualität und das richtige Quäntchen an Spannung für alle diejenigen, die es in der trauten Heimatstimmung nicht lange aushalten. Die Autorin leistet bei der Schilderung dieser Verstrickungen einen Spagat, der ihre Vielseitigkeit erkennbar macht: Einerseits möchte sie entlarven und den Leser*innen Spiegel aus jener Welt vorhalten, die alle Probleme fröhlich fortschunkelt, andererseits geht es ihr auch um poetologische Reflexionen, die die Erzähler*innen, Leser*innen und das Romanensemble in die Metaebene des Romantextes eindringen lassen:
Liebe Dorfbewohner, was sagt ihr dazu? Wollen wir der Frau Tanja helfen? Wo sind wir überhaupt, hier fliegen überall Buchstaben herum. Wir sind in einer sogenannten Metaebene. Irgendwie unheimlich hier.
Dort suchen die Romanfiguren nicht nur nach der Frau Schriftstellerin, dort führen sie auch die metaleptische Diskussion um die Erzählstimme mit der fiktionsinternen Diskussion um die böse Großcousine aus der Großstadt zusammen.
Sehr bewusst arbeitet Piuk mit der Trennung zwischen empirischer Autorin und verschiedenen Erzählinstanzen. Dabei bricht sie mit lehrbuchhaften Zuordnungen. Gerne lässt sie die Erzählinstanzen als Romanfiguren auftreten und schickt eine fiktiv-empirische Autorin namens Petra Piuk vor, die der Erzählerin namens Frau Schriftstellerin den Rang ablaufen soll. Im Schreibzimmer der Petra Piuk entsteht dann ein »Minidrama«, das zum Bruch zwischen Piuk und Frau Schriftstellerin führt und das den Spieltrieb der realen Autorin spiegelt:
Petra Piuk zieht an der Zigarette. Sie bläst Rauchringe aus, schubst den Kater vom Tisch hinunter, blättert durch das Manuskript und nimmt eine Seite heraus, auf der die Frau Schriftstellerin einen Monolog hält. Sie dämpft die Zigarette aus, lächelt und zerknüllt die Seite. Die Frau Schriftstellerin legt ihre Zigarette im Aschenbecher ab und greift sich an den Hals. Sie droht zu ersticken. Petra Piuk wirft das zusammengeknüllte Papier auf den Boden. Die Frau Schriftstellerin sackt zusammen.
Schließlich gibt es auch noch die Lektorin Tanja, die in den Fußnoten sitzt und ständig fordert und drängt. Sie führt Korrespondenzen mit der Petra aus dem Minidrama und erinnert diese immerfort an das glückliche Ende, das sie ihren Leser*innen bieten müsse.
Trautes Heim, Glück allein!Doch diese Petra Piuk greift immer mehr in den Roman ein und stürmt hinter die Kulissen des die Handlung rahmenden Heimatidylls, reguliert sich dabei selbst, was durch Streichungen und anmerkende Fußnoten ironisiert wird. Ganz ähnlich wie Felicitas Hoppe in Hoppe treibt die Autorin das Spiel mit den Erzählinstanzen auf die Spitze; hier, indem die Romanfigur Moni, die bisher keine eigene Stimme hatte, im Nachwort plötzlich erklärt, dass sie die Erzählerin sei: »Die Frau Schriftstellerin hat es nie gegeben. ICH habe den Roman unter dem Pseudonym Petra Piuk geschrieben. Toni erzählte mir eines Tages im Vollrausch die ganze Geschichte.« Auch diese Aufschlüsselung am Ende ist ironisch überzeichnet.
Piuks Spiel mit literaturwissenschaftlichen Kategorien und Formen ist durch die deutliche Ironisierung derselben durchaus gelungen und bildet ein spannungsvolles Gegengewicht zu den Plattitüden aus Schlager-, Heimat- und Alltagswelt. Neben der poetologischen Experimentierfreude der Autorin besticht jedoch auch die einfache Rahmenhandlung, die spannend gestaltet ist und ganz verschiedene Höhepunkte des Schauderns bereithält. Das Netz aus Gewalt, das sich über das Dorf und über Generationen spannt, ist jedoch deutlich überzeichnet. Gewaltopfer haben hier kaum eine Möglichkeit, sich aus ihrer Rolle als zukünftige Täter zu befreien; die Rettung von außen entpuppt sich als ungeschickte Nervensäge aus der Großstadt, die ihrer Rolle nicht gewachsen scheint. Die überspitzte Perspektivlosigkeit in der Opfer-Täter-Spirale verärgert, aber vielleicht ist es genau das, was die Autorin beabsichtigt hat. Tabubrüche laufen eben schnell Gefahr, zu überzeichnen, dürfen dabei jedoch auch nicht zu neuer Stereotypenbildungen verleiten; denn in der Realität jenseits Schöngrabens wird nicht jedes Gewaltopfer zum Gewaltverbrecher, vielmehr gibt es genügend Menschen, die aus der Gewaltspirale aussteigen (Schon der Blick in die Zeitung führt schnell zu Gegenbeispielen: hier zwei Beispiele von 2019 und 2015). Das Schreckensdorf Schöngraben an der Rauscher bleibt zum Glück ein fiktiver Ort; die erzählten Geschichten jedoch können, das sollten wir Leser*innen uns klarmachen, jederzeit auch ins eigene Heimatidyll Einzug finden.
3. Die AbleitungBezeichnenderweise saß Petra Piuk dann genau am Weltfrauentag auf der Mannheimer Bühne und sprach über ihr Heimat-Buch (und dessen Frauen), ihr Schreiben und ein bisschen auch über sich selbst. Begleitet wurde dieser Abend von den beiden Musikern Christoph Pütthoff und Günter Lehr, die mit patriarchal geprägten Schlager-Interpretationen zum Mitschunkeln einluden. Dabei war der Abend eine gelungene Komposition: Pütthoff und Lehr musizierten sich in die Herzen des männlichen und auch weiblichen Publikums und boten dabei Stichwörter, die die Autorin beim Lesen aus ihrem Buch wieder aufgriff und mit Stratmann ausdiskutierte: schöne Heimat und wahre (männliche) Liebe mit Hansi Hinterseer, G. G. Anderson und Uwe Busse; dabei ein Fortträumen von Heimatschrecken und sexueller Gewalt – denn von düsteren Wolken am Heimathimmel und versteckter Gewalt wollte das Publikum des Abends eigentlich gar nichts wissen. Oder?
Humor ist, wenn man trotzdem lachtPetra Piuk blickt jedoch gezielt zwischen die Zeilen der anheimelnden Ohrwurm-Strophen wie sie auch hinter die Fassade eines prototypischen, idyllischen Dorfes schaut. Die Umstellung auf den derben Unterton ihrer
Dabei ging es Petra Piuk laut eigener Aussage vor allem um die ernsthaften Inhalte, die sich hinter der Heimatfassade verbergen. Aber, so Cordula Stratmann als Vertreterin der Lachfraktion, Petra Piuk sei eben eine komische Erzählerin, die ein Händchen für absurde Komik habe – und Cordula Stratmann als Komikerin muss es ja wissen. So versuchte sie, den zynischen Tonfall des Buches aufzugreifen und stellte der Autorin auch ein paar sehr persönliche Fragen, die an den Romaninhalt anschlossen: wie es denn um die Verhältnisse in Piuks Familie bestellt sei und ob Petra Piuk als Kind auch einen Frosch aufgeblasen habe? Besonders lustig fand Stratmann die kleine Anekdote mit den Ameisen, die der Protagonist Toni in Spucke ertrinken lässt. Höchste Zeit für Piuk, noch einmal zu betonen, dass der Romaninhalt nicht autobiographisch sei und dass sie weder Toni, noch Moni, noch zwangsweise die sich einschaltende Erzählerin Petra oder gar die durch Fußnoten schwirrende Lektorin Tanja verkörpere. Wir können sie uns also denken als die Petra, welche auf der Bühne sitzt und nicht als jene, welche in der Metaebene zwischen den Buchstaben herumgeistert und den Forderungen nach Heimatschwelgereien renitent die Stirn bietet. – Und nur, weil man alle zwei Wochen aufs Dorf fährt, muss man noch lange keine Frösche aufblasen! Tragik und Komik liegen, so bewies die Autorin an diesem Abend im Einklang mit ihrem Publikum einmal mehr, ganz nah beieinander.
Schmerz, lass nach!Doch noch einmal zurück zum Autobiographischen. Den Roman habe Petra Piuk zum großen Teil in Rom geschrieben und nicht in der trauten Heimat. Die Schlagerlieder habe sie dabei zu Recherchezwecken in ihrer Künstler*innen-WG gehört und nicht nur sich, sondern auch ihre Mitbewohner*innen damit gequält. Vielleicht ist sie dabei ja auch ein bisschen wütend geworden, denn sie brauche, so berichtete sie, die Wut zum Schreiben. Und die Schlagerlieder bringen genau das mit, was Piuk so wütend macht: Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Diese gedenkt sie offenbar mit ihrem Roman aufzubrechen, indem sie die Leser*innen als Zuschauer*innen vorführt, die am Fassadenspiel der Idylle teilhaben. Viele Kapitel und viele Stimmen halten den Roman zusammen, verschiedene Erzählebenen und -kontexte werten das Romanprojekt künstlerisch auf. Besonders gerne habe Piuk auch mit sogenannten »Fremdtexten«, mit Fotos, Montagen oder eben auch mit Schunkelliedern gearbeitet.
Cordula Stratmann täten, neben all der Komik, die Ereignisse hinter den Fassaden »so irre weh«, und die Musik, so waren sich die beiden Autorinnen einig, lasse in ihrer Abgeschmacktheit den Schmerz vergessen. Und Tonis Geschichte kann verdammt weh tun, denn sie zeigt, wie sehr Täter auch Opfer und Opfer auch Täter sein können.
Ende gut, alles gut?Am Ende warf Stratmann dann die alles entscheidende, den Pudel – auch hier nicht autobiographisch – kernende Frage auf: Wie lässt sich das alles aufbrechen? Die Antwort war erwartbar wohltuend: miteinander sprechen, dabei Tabus brechen, weiterhin dafür Sorge tragen, dass mehr Beratungsstellen für Mütter und sonstige betroffene Frauen gegründet werden, Dörfer aus der Abschottung befreien. Zum Schluss ein bildreiches Zitat von Cordula Stratmann: »Wo wir von Bildern leben, da wird es toxisch« – oder eben schunkelig-schön. Es lohnt sich, mit Piuk einen Blick hinter die Bilderfassaden und Fassadenbilder zu werfen und mit der Wirklichkeit zu arbeiten. Den Abschluss des Abends bildete eine musikalisch-mannhafte Einlage von Pütthoff und Lehr, die zeigt, dass der erste Schritt zur Besserung eben die Einsicht ist. Ein »zärtlicher Tyrann«, der, inspiriert von Uwe Busses Schlager und Piuks Buch, das Ende der Abendveranstaltung beschloss: »Ich schwör bei Gott es tut mir wirklich leid, dabei hab ichs doch gar nicht so gemeint, ich kann nicht raus aus meiner Haut, halt mich ganz fest, komm küss mich jetzt«. So wurden Mann und Frau in einem für Piuks Heimatwelt wünschenswerten Happy End zusammengeführt und – nur im bösen Märchen wäre das Ende noch schöner – im abschließenden Kuss vereint.