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Vom Ende der Unschuld

Deutschland hatte sein 68, Österreich die Waldheim-Affäre. Robert Schindel erzählt in Der Kalte von einem Stück Vergangenheitsbewältigung im Alpenland. Am 12. April las der berühmte Lyriker im Literarischen Zentrum aus seinem zweiten Roman.

Von Yannick Lowin

»Da wachsen wir auf im Nachkrieg unter den Blicken einer zugleich stummen und verlogenen Generation«, lässt Robert Schindel den Journalisten Roman Apolloner in seinem neuen Roman Der Kalte sagen. Und: »Niemals haben wir uns je mit der Nazizeit auseinandergesetzt, keiner hat die Frage: Vati, was hast du eigentlich im Krieg gemacht? gestellt, alle haben wir uns hinter der Opferthese […] versteckt.«

Deutschland hatte sein »68«. Beim Nachbarn Österreich hat es bis in die 80er Jahre gedauert, ehe eine ernsthafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit einsetze – auch wenn mit der Gemächlichkeit eines Wiener Kaffeehausgastes. Es brauchte dazu die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten im Jahr 1986. Der vormalige UN-Generalsekretär hatte seinen Einsatz als Wehrmachtssoldat auf dem Balkan aus seiner Biographie ausgelassen. Bei Schindel heißt er Johann Wais und versteht die Aufregung darüber genauso wenig wie sein reales Vorbild. Er habe doch nichts anderes getan als 100.000 andere Österreicher auch – die ihn dann ja auch zu ihrem Präsidenten erkoren.

Doch das war es ja gerade, was die Diskussionen im eigenen Land wie in der Welt hochkochen ließ: das Mitmachen, das Schweigen und die Berufung auf die »Pflicht«. Die Waldheim-Affäre und mit ihr der Diskurs um die »Pflichterfüllung« führte letztlich dazu, dass sich die kollektive Selbstwahrnehmung veränderte. Der Tresen, auf dem der österreichische Generalpersilschein – mit dem Vermerk das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein – ausgebreitet lag, begann zu wackeln.

In diesen wechselvollen Jahren lässt Schindel Der Kalte spielen. Der Kalte ist Edmund Fraul, Kommunist, Spanienkämpfer und Halbjude, was den Nazis entgangen ist, ihn aber nicht vorm KZ in Auschwitz rettete, wo er Lagerschreiber für den Standortarzt war. Die Handlung spannt sich von November 1985, dem 66. Geburtstag von Fraul bis zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1989. Damit schließt Schindel chronologisch an seinen erfolgreichen Debütroman Gebürtig (1992) an.

»Auschwitz als Heimat«

Die Waldheim-Affäre ist dabei nur einer der Episoden rund um die Vergangenheitsbewältigung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Eine andere spielte sich im wahrsten Sinne des Wortes am Wiener Burgtheater ab. Dort übernahm der deutsche Regisseur Claus Peymann 1986 die Leitung und heizte die Stimmung in Österreich mit an, in dem er moderne, kritische Theaterstücke wie Heldenplatz von Thomas Bernhard aufführen ließ. Bei Textzeilen wie »es gibt jetzt mehr Nazis in Wien als achtunddreißig. Jetzt kommen sie wieder aus allen Löchern heraus, die über vierzig Jahre verstopft gewesen sind«, war die Empörung vorprogrammiert. Und zumindest die Roman-Variante von Peymann – Dietger Schönn – wollte genau das: »Theater muss verändern, empören, sonst ist es ein Scheißhaus.«

Die Innensicht am Burgtheater gewährt Robert Schindel dem Leser, indem er Edmund Frauls Sohn Karl zum Nachwuchsstar des Ensembles macht. Der steht seinem Vater, dem Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebenden, allerdings nicht sehr nahe. Denn Karl wirft seinem Vater vor, sein Herz in Auschwitz gelassen zu haben und alle Menschen nur darauf zu beurteilen, wie er oder sie sich wohl im Zweiten Weltkrieg verhalten hätte. Die Prägung Edmund Frauls durch Auschwitz ist Schindel hervorragend gelungen; vor allem seine Alpträume, die von erlebten und imaginierten Erlebnissen aus dem Lager handeln und bei denen der Leser manchmal nicht mehr weiß, wann Fraul noch träumt und wann er wieder in der Realität angekommen ist.

Denn was »Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer«. Und so lässt Schindel eine Art Freundschaft zwischen Wilhelm Rosinger, einem ehemaligen Aufseher in Auschwitz und Fraul entstehen, der Rosinger nach dem Krieg aufgestöbert und ihn einem größeren Auschwitz-Prozess zugeführt hat. Das Verhältnis zu Rosinger erscheint zwar unwirklich, doch unter dem Label »Auschwitz als Heimat« durchaus plausibel.

Im Kosmos der bürgerlichen Wiener Gesellschaft

Einen dritten großen Erzählstrang in dem multiperspektivisch vorgetragenen Werk macht Schindel mit der Debatte um den Ort des antifaschistischen Mahnmals des Künstlers Herbert Krieglach auf. Auch er weist Parallelen zu einer realen Figur auf: Alfred Hrdlicka. Beide haben außerdem als Zeichen des Protests gegen die verheimlichte Mitgliedschaft des Bundespräsidenten Waldheim/Wais bei der SA-Reiterstandarte ein meterhohes Holzpferd entworfen, womit sie der politischen Gemengelage ein weiteres Diskussionsfeld hinzufügten.

Buch-Info


Robert Schindel
Der Kalte
Roman
Suhrkamp: Berlin 2013
663 Seiten, 24,95 €

 
 
Die drei großen Geschichten kreisen um das Gravitationszentrum Erdmund Fraul im Kosmos der bürgerlichen Wiener Gesellschaft. Der Leser wird zum stillen Beobachter der politisch-kulturellen Elite; und folgt dem riesigen Figurenspektrum in Szene-Restaurants, Stammkneipen und in die Hinterzimmer der Politik: Franziska Fraul, Edmunds Frau; Margit Keyntz, Karls Geliebte, die er dann mit dem Burgtheater-Star Astrid von Gehlen betrügt; Margits Bruder Stefan Keyntz sowie die Journalisten Roman Apolloner oder Judith Zischka sind allesamt authentische Figuren, die Robert Schindel mit ebenso ruhiger Hand zeichnet wie die Ereignisse.

Doch Begegnungen und Zufälle in Der Kalte wirken einen Tick zu stark konstruiert. Auch die Fülle der Handelnden nimmt irgendwann Überhand. Zwar sind Protagonisten wie Stefan Keyntz und Robert Schindels Alter Ego Paul Hirschfeld, durchaus unterhaltsam, aber die Geschichte bringen sie nicht voran. Zudem verliert sich Schindel in Nebensträngen, die er mit seinen vielen Randfiguren eröffnet. Ein brillanter Lyriker ist der Sohn jüdischer Kommunisten gewiss, als Romanautor reicht es jedoch nur für das Prädikat »gut«.

»Ich bin und bleibe Lyriker«, entgegnet Schindel als Paul Hirschfeld seinem Lektor als dieser das Manuskript zu Hirschfelds erstem Roman gelesen hat und daran nur auszusetzen habe, dass er weiterlesen möchte, weil er wissen wolle wie er die Fäden verknüpfe. »Das alles mache ich bloß ihnen und dem Verleger zuliebe«, fügt Hirschfeld seiner Antwort hinzu. Bleibt zu hoffen, dass Robert Schindel im letzten Teil seiner auf drei Werke angelegten Reihe zur österreichischen Vergangenheitsbewältigung doch noch die Liebe zur Prosa entdeckt, denn der Stoff hat 75 Jahre nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen nichts von seiner Tragweite verloren.



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 Veröffentlicht am 23. Mai 2013
 Bild mit freundlicher Genehmigung des Literarischen Zentrums Göttingen
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