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Hin und her gerissen

Iris Radisch begibt sich mit ihrer Camus-Biographie auf die Spur des großen Schriftstellers, der gleichzeitig auch Sohn und Vater, Ehemann, Dandy, Liebhaber, Kommunist, Schüler, Journalist, Franzose und Algerier war. Ein Buch, das um das Schweigen und damit um das ewig Geheimnisvolle im Leben des Albert Camus kreist.

Von Valentina Prljic

Am Anfang war Schweigen. Man muss sich das Leben eines Mannes denken, der aus der Tonlosigkeit heraus seine Sprache schuf und mit ihr einer der bekanntesten französischen Schriftsteller wurde. Der aufwuchs in einer Leere, die Worte nicht kannte, mit einer Mutter, die nicht redete und einem Onkel, der taubstumm war. Das Kind eines Vaters, der vor seiner Geburt starb. Dies sind Leerstellen im Leben von Albert Camus‘, die sich auch in seinem Schreiben finden. Er schreibt von ihnen, indem er nicht von ihnen schreibt, und wenn er sie doch erwähnt, dann beinahe kunstlos. Iris Radisch nennt diese Eigenart das Ideal der Einfachheit.

Ihre Biographie von Albert Camus ist die Biographie seines Schreibens. Sie spricht von ihm immerzu aus der Perspektive des leeren Blattes, das vor ihm lag, von seinen Gründen, den Stift in die Hand zu nehmen und zu schreiben über die Welt, den Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, den Sommer, das Meer. Nach diesen bevorzugten Wörtern Camus‘ benennt sie die Kapitel der Biographie, die auch Kapitel seines Lebens sind. Sie lässt ihn zu Wort kommen, sie zitiert aus seinen Büchern und löst das Wiedergegebene so aus seinem Kontext, dass am Ende Camus selbst von sich spricht. Diese Vorgehensweise erzeugt ein authentisches Bild des Menschen, den sie zu beschreiben versucht. Und ihre Beschreibung in eigenen Worten verhält sich in ihrem lyrisch-prosaischen Stil kongenial zu den trefflich ausgewählten Zitaten. Dabei lässt sie seine Autobiographie Der erste Mensch bis zum Schluss des Buches nahezu unberührt. Sein Werk wird bis dahin biographisch gedeutet und kein Wort, keine Philosophie bleibt unabhängig von ihrem Verfasser. Hinter vielem verbirgt sich Intertextuelles: so beginnt die Biographie thematisch mit der Mutter und erinnert subtil an den ersten Satz seines weltberühmtes Romans Der Fremde: »Heute ist Mama gestorben.«

Beinahe ein Stummfilm

Es scheint, als gäbe es nichts, was Iris Radisch von Camus nicht gelesen hat. Sein einziges Gedicht veröffentlicht sie wie nebenbei in ihrem Buch und übersetzt erstmals Ausschnitte aus Briefen und anderen Texten auf Deutsch. Sie schreibt von seinem Maßstab, der Lebensanschauung, macht ihn sich zu eigen und schaut sich sein Leben an: seine Bücher als »Stummfilm«. Es fällt nicht schwer, sich Camus im monochromen Paris der 1950er Jahre vorzustellen, wie er mit einer Zigarette im Mund in seinem dunklen Zimmer in der Rue de Madame sitzt, während nebenan seine Frau ununterbrochen Bach am Klavier spielt und die Aufführung des Films, der ihr Leben ist, musikalisch untermalt. Die Metapher des Stummfilms trägt aber viel mehr in sich als das. Sie umfasst Camus‘ unentwegtes Schreiben gegen seine Muttersprache, die das Schweigen ist. Und bezeichnet damit einen von vielen Widersprüchen seines Lebens.

Der Gegensatz zwischen der Sprachlosigkeit seines Elternhauses und der Schule wiederholt sich später in einem größeren Maßstab mit der Distanz zwischen Algier, seiner Heimaterde, und dem intellektuellen Paris, das er zugleich liebt und hasst. De Beauvoir, Sartre und Picasso im Café de Flore versus seine Kindheit im algerischen Armenviertel. Camus ist Teil einer Attrappenwelt und weiß darum. Wie in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater reist er hin und her in seiner Welt, um zu sehen, ob das Paradies »vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«. Die größte Rolle spielt Camus im Kostüm des Nobelpreisträgers 1957 und er gibt sie auf in dem Moment, als er den Frack, in dem er dem schwedischen König die Hand schüttelte, in Paris zurückbringt. In der Aufrichtigkeit seiner Rede, in der er gesteht, es nicht vermocht zu haben, »auf das Licht zu verzichten, das Glück des Seins, das freie Leben, in dem ich aufgewachsen bin«, ist Camus keine Figur mehr, sondern wieder Kind. Die Sehnsucht nach dem Anfang ist sein Paradies. Das Bild der Wüste, der biblischen Einöde, in der, wie Iris Radisch zauberhaft formuliert, »die Dinge beim höchsten Sonnenstand keine Schatten werfen« begleitet Camus in seinen letzten Lebensjahren und ermöglicht ihm, endlich zurückzublicken auf die vielen Schattierungen. Auf das, von dem er glaubt, er sei dafür am meisten missachtet worden: »Meine dunkle Seite«.

»Mein Werk wird von meinem Leben gemacht werden und nicht umgekehrt«

Dabei sind die Helden seiner Romane die Sonne, das Meer und der Sommer. Der algerische Autor Camus ist nicht Zuhause in der westlichen Welt, in die er ausgerechnet umzieht, als der Zweite Weltkrieg beginnt. In der Pariser Kulturdiplomatie findet er dennoch, wonach er dort nie gesucht hätte: die »Mediterrane Ideologie«. Das Meer, das er verlassen hat, behält er sich als eine Art zu denken und so wird die Mittelmeerphilosophie zum »naturmagischen Eskapismus seiner afrikanischen Prosa«. So wie Der Fremde an der Verbesserung seiner Lage nicht interessiert ist, lehnt auch Camus den Fortschrittsethos seiner bürgerlichen Umwelt ab. Es ist ihm nie eingefallen, jemand zu werden, der er nicht werden konnte. Radisch beschreibt, wie er genau das doch tat und daran zerbrach, nicht »wie alle zu leben, allen Leuten zu gleichen«. Wer eine Biographie von Camus schreibt, kann ihm nur gerecht werden, wenn er ihn als Schriftsteller sieht, der auch Sohn und Vater, Ehemann, Dandy, Liebhaber, Kommunist, Schüler, Journalist, Franzose und Algerier war. Und sich wie Iris Radisch eingesteht, dass das Geheimnisvolle an Camus geheimnisvoll bleibt. Die Existenz bleibt im Innersten unverstehbar.

Buch-Info


Iris Radisch
Camus
Rowohlt: Hamburg, 2013
352 Seiten, 19,95€
E-Book: 16,99€

 
 
War er nicht auch Philosoph? Camus ist, und das ist nicht der Fehler der Autorin, sondern das Merkmal jeder Biographie, ein Konstrukt. Es sind Fragmente, die letztendlich das Bild Iris Radischs von Camus bilden und das Ergebnis dieser Schöpfung ist kein Philosoph, sondern jemand, der die Philosophie literarisierte. Das Absurde in seiner Philosophie wird zur »Wunde, die sich nie schließen wird, ein unlösbares Paradox«. Und zu einem Begriff, der neben dem der Desillusion und der Hoffnungslosigkeit (die Hoffnung ist) Camus’ Schaffen in der Vorkriegszeit bezeichnet. Widerstand, Kampf und Der Mensch in der Revolte lösen diese ab. Alle sind sie verschiedene Ausdrucksweisen der einen fundamentalen Kategorie seiner Philosophie: das Leben. Und die Philosophie wiederum ist eine Ausdrucksweise des Lebens von Camus. Es lässt sich nicht vollständig beschreiben und der Versuch ist, wie Pierre Bourdieu zusammenfasste, »biographische Illusion«.

Seinen letzten unvollendeten Roman, der für Radisch im Sinne Goethes Wahrheit und Dichtung zugleich ist, trägt Camus bei sich, als er 1960 bei einem Autounfall stirbt. Das Autobiographische in Der erste Mensch hatte den Vorzug, nicht auf ein Ende hin geschrieben zu sein, sondern bedeutete seinem Autor im Gegenteil einen Neuanfang. Die Einfachheit seines Schreibens, das bisher immer von der Schwere des Pathos begleitet war, erhebt Radisch mit seinem letzten Buch zum Ideal. Diese Einfachheit ist keine Eigenschaft seines Werks, sondern im Sinne einer »neuen Ästhetik der Lesbarkeit« zu verstehen, die der algerische Zeitgenosse Roland Barthes unabhängig von Camus forderte. Um diese zu erfahren, bietet es sich an, Camus selbst zu lesen. Wer nachvollziehen möchte, unter welchem Licht er diese Einfachheit schuf, die keine Tonlosigkeit mehr war, lese seine Biographie von Iris Radisch.



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 Veröffentlicht am 27. Januar 2014
 Kategorie: Belletristik
 Walter Popp via wikimedia commons
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