Das vierte Hildesheimer Festival für junge, deutschsprachige Literatur, das Prosanova, fand Ende Mai auf einem Hauptschulgelände statt. Für ihre ungewöhnlichen Lesungsszenerien bekannt, versuchten die VeranstalterInnen dieses Jahr durch ein Konzept der Vielstimmigkeit zu überzeugen.
Von Malte Gerloff
Das Kleid der Performance-Künstlerin weht als Fahne über Hildesheim. Damit ist eines klar: Die Literaten sind wieder in der Stadt. Und das aus gutem Grund: Es ist Prosanova. Und auf dem Prosanova Festival sei schließlich immer irgendwann jemand nackt, so eine Zuschauerin. Dass ältere Frauen hier unversehens ihre Röcke heben, um zu zeigen, dass sie nichts drunter tragen, wird dabei zum Normalzustand. Auffallen um jeden Preis ist wohl das Motto; das Ready-to-go-Commando als Sinnbild einer entfesselten Gesellschaft. Die Nacktheit gibt es aber auch als Kritik. Dargestellt von einer weitaus jüngeren Performance-Künstlerin, die neben ihrem eigenen Nacktporträt mit einem Edding steht und ihren jugendlichen Körper präsentiert. Dieser steht im Gegensatz zum gängigen und im Zeitalter des Internets omnipräsenten Schönheitsideal: Ob der vermeintlichen Schwachstellen, die es – natürlich – eigentlich nicht gibt, malt sie also Schnitte unter ihre Brüste, weil diese nicht – wie in Umfragen bestätigt worden sei – dem Ideal von 75 B entsprächen, malt Pfeile an ihre Hüften, da diese zu schmal, malt weitere Pfeile in ihr Gesicht, da die Stirn nicht hoch genug, die Ohren wiederum nicht klein genug seien, die Nase nicht in der richtigen Proportion zu ihrem restlichen Gesicht stehe und bemalt auch ihr Haar, da dieses die falsche Farbe habe.
Bitte alle einsteigenZwar war es nicht alles Performance-Kunst, was präsentiert wurde, doch seltener schien es, dass da einfach allein gelesen, nichts durch bewegte Bilder oder Performance-Einlagen unterstützt worden ist. Das Lesen allein – es scheint im digitalen Zeitalter nicht mehr zu genügen. Dies bezieht sich gerade auch auf das Allein – fast alle Auftritte wurden im Verbund durchgeführt. Lyrische Mehrstimmigkeit anstelle von einsamem Genie-Kult scheint momentan die Mode im Literaturkarussell zu sein, der sich brav alle unterwerfen.
Dabei steht dieses Einreihen eigentlich in einem krassen Gegensatz zu dem bunten Potpourri des Schulhofs, der eingebettet in die Szenerie einer Landhaus-Landschaft einer zerbombten und demgemäß neuaufgebauten Garnisonsstadt in der niedersächsischen Provinz zu finden war. Der eingebettet in die Szenerie einer sich an diesem Ort befindlichen aber leerstehenden Hauptschule war, die sich im Umbau zu einer Grundschule befindet, die sich als fast perfekte Location gegeben hat – sieht man mal ab von den zu tief hängenden Pissoirs und den zu kleinen Stühlen. Dieses Einreihen unter die Macht des Trends will nicht überein mit den Suppenküchenhippies im Innenhof, die für die Versorgung zuständig sind oder der herumstromernden Punkerin mit Hund, mit den sich entkleidenden Frauen. Es passte eigentlich nicht so recht in das individuelle Bild des sich darbietende Schulhofs, der unter der ständigen Beschallung des Techno des Sommers stand, der allerdings auch der Techno der letzten Sommer war. Und vielleicht passte es gerade deshalb, weil diese Individualität nur eine vorgespiegelte war? Eine, die im Zeichen einer Generation steht, die zu einer Musik feiert und chillt, die einen stetig antreibt und so zeigt, dass diese Generation immer nach vorne getrieben wird – vorwärts, immer vorwärts im vierviertel Takt! Weil sie glaubt, zu müssen, immer weiter zu müssen: Auf in den Pragmatismus ohne Ideal.
Verschwommene BeamerpixelDie Musik treibt allerdings auch alle in die Nacht. So ging es mit der Partyreihe »Unendlicher Spaß« als Lebensgefühl in die schlaflosen Nächte von Hildesheim, deren ekstatisches Ausmaß sich an den Augenringen der studentischen Organisatoren mit zunehmender Dauer des Festivals ablesen ließ.
In dieses bunte Gewühl hinein die erste Lesung: »Mutmaßungen über die Wirklichkeit.« Grenzüberschreitungen – ein Motto für viele der Besucher, ist auch das Motto von Dorothee Elmigers die Lesung beginnende Passage, die zuvor mit der Bekanntgabe der Absage von Kathrin Röggla anmoderiert worden war und deren Fehlen deutlich wird, wenn es um Schlafentzug geht. Sie hätte Altbekanntes locker abfeaturen können, aus Wir schlafen nicht (2004). Wolfram Lotz komplettierte die dezimierte Runde. Elmiger störte das alles nicht und begann sofort, sich einzugrooven – begann mit einer Auswucherung des schweizerischen Verwaltungsapparats: Eine Stellenbeschreibung als schweizerischer
Ende und Anfang werden sich, nachdem Elmiger einen Romanausschnitt aus ihrem kommenden Buch Schlafgänger gelesen hat, gleichen. Danach beginnt sie mit der Entmythifizierungsmaschinerie: der Materialschau zweiter Teil: Die Preisgabe der Quellen. Dafür wird der stummlaufende Film abgedreht – es folgen Bilderstrecken wie auf Opas besten Dia-Abenden. Und es geht dabei – natürlich – um weitere Grenzen, die – in diesem Fall – gar schon überschritten worden sind; es geht ums Auswandern. Direkt im Fokus: Auswanderer Jacob Boll; sein gewähltes Paradies: Texas; seine gegründete Siedlung: La Reunion, aus der später Dallas erwuchs; sein Vorbild: Victor Considerant. Also wer demnächst nach Dallas kommt – so die Erkenntnis – kann den dortigen Einwohnern nun erzählen, was die meisten so sehr verwundern wird, wie dass sich der Freistaat Bayern aus sozialistischen Ideen heraus nicht in das Deutsche Reich integrieren wollte, dass ebenso Dallas, als La Reunion freilich, als eine Kolonie der frühsozialistischen Utopien gegründet worden ist. Der Materialschau zweiter Teil wird von der Lesenden in den Klammerbau geschlagen; Anfang und Ende sind also gleich: Meine Name ist Boll, sagte ich, mein Name ist Boll – Ende.
Noch nicht am Ende ist die Lesung und damit auch nicht Wolfram Lotz‘ Verteidigungsrede eines somalischen Piraten; ein Schreibtischtäter-Hörspiel, das jetzt beginnt. Dabei wird ein weiteres Festivalmotto – Bekenntnisse – umgesetzt: Der Pirat bekennt seine Schuld vor einem deutschen Gericht, ein Lebenslauf, eingebunden in die Schuld, in das Setting Somalias, in das Elendssetting von Mogadischu, in dem schon der Vater abstruse Dinge tat und sein bester Freund einen unrentablen Job als Crêpes-Verkäufer in einem Elendsviertel hatte. Als der Held der Geschichte das Piratendiplom an der Piraterie-Universität machte. Das alles vorgetragen in einer Stampfbeatsatire mit gewöhnlichem Fäkalhumor.
…und keiner liest alleinNach dem Schuldbekenntnis zwischen Arschölen und Bananenfabrik gibt der Autor nun einen Einblick in die somalische Lyrik – liest aus den einzigen beiden somalischen Gedichtbänden, die er bei seinen Recherchen auftreiben konnte. Dichtung als Alteritätserfahrung und man ist schon wieder in einer weiteren Materialschau, die zum nächsten Punkt übergeht: Eine Karte von GoogleMaps wird gezeigt, auf dieser sind Boote zu sehen, die zur Piraterie aber auch zum Fischfang genutzt worden sind. Eine Karte, die zeigt, dass die Welt nicht schwarz-weiß in Terroristen/Piraten und gute Bürger geteilt werden kann in einem Land ohne Zukunft, ohne Arbeit, ohne Essen, ohne Geld und dafür mit verdammt viel Armut. Doch das Finale ist furios: Auf der Leinwand sind Statements der Angeklagten zu sehen. Lotz verliest sie aber nicht. Will denen eine Stimme gewähren, die sonst keine haben und bleibt zum Glück auch gegen die Zwischenruf derjenigen resistent, die anscheinend noch nie viel von künstlerischer Freiheit verstanden oder noch nie darüber nachgedacht haben, dass es ein Ziel sein könnte, denen, die keine Stimme haben oder denen keine zugestanden wird, eine Stimme zu geben, welches zudem ein wahrhaft ehrenvolles Unterfangen ist. Das Schlussbild: Ein Piratenboot – wie es von einem Torpedo versenkt wird. Ein Bild, das erneut die Ästhetik der Zerstörung und des Grauens offenbar werden lässt.
Als an einem der nächsten Nachmittage die »Bürogemeinschaft« Adler, Fürstenberg, Lauterbach, Pletzinger und Rammstedt zur Lesung im sonnigen Hof geladen hatte, konnten in der darauffolgenden Abendveranstaltung natürlich auch nicht Jo Lendle, Annika Reich und Jan Brandt alleine erscheinen. Á la Trend. Letztere nannten ihr Konzept: »socialreading.« Gemeint war damit die Inwertsetzung der Metadaten – Einblicke in den Maschinenraum bei der Entstehung eines Romans. Jeder der Autoren durfte bei den anderen Lektor spielen – die Kommentare – dem Autor des Textes bis zur Präsentation unbekannt – wurden laut, während der Autor den Haupttext verlas, verlesen. Dabei standen alle drei hinter drei weißen Säulen: ihre Rechner auf den Säulen, sie dahinter – pure 80er Jahre-Kraftwerkästhetik. Auch hier also das Technodesign, das über dem ganzen Festival zu hängen schien – auch wenn im Hof Aktuelleres gegeben wurde. Hinter ihnen die Texte und Kommentare im Programm Rapgenius auf die Leinwand geworfen, entzündet sich ein Feuerwerk der Situationskomik, beschimpfen sich Brandt und Lendle spaßhaft gegenseitig als Germanistikhäschen, prangert Reich Brandts 80er Jahre-Männlichkeitsbild an und so weiter und sofort ist der Spaß und die etwas laue Gefühligkeit wieder da, in denen alles in den Tagen von Hildesheim getaucht zu seien scheint, die in den Nächten aufgehen und voll erblühen und dort zu unendlichem Spaß werden und deren kaleidoskopisch gebrochenes Licht die Mode anzitiert, die so ins Auge stach: die Vielfalt, die Vielstimmigkeit, die Mehrstimmigkeit. Keiner ist allein. Scheint die Hoffnung zu seien, deren Schein wohl abermals trügerisch ist und in die Buntheit möchte man schreien: »Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.« Doch man unterlässt es, man will den fröhlichen Reigen ja auch nicht unterbrechen. Denn die härteren Tage stehen mit dem anderen Motto der Lesetage – also neben den Bekenntnissen – dem der Dringlichkeit ohnehin und zweifelsohne ins Haus. Vielleicht wird es in drei Jahren ernster, als einem lieb ist.