In Gespenster in Göttingen tritt die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé als zusätzliche Protagonistin auf und legt die Figuren aus Ibsens Familiendrama Gespenster auf die Therapiecouch. Eine originelle Inszenierung, die aber einen unangenehmen Beigeschmack hinterlässt.
Von Christian Dinger
Gespenster in Göttingen – der Titel klingt verdächtig nach einem Klassiker in Lokalkolorit, als hätte man Ibsens Gespenster mit dem Gänseliesel im Hintergrund inszeniert und mit allerlei lokaltypischen Verweisen gespickt. Doch dem ist nicht so. Der Stadtname im Titel ist nur einer historischen Person geschuldet, der in der JT-Inszenierung sozusagen ein Gastauftritt gewährt wird: Lou Andreas-Salomé, einst Pionierin der Psychoanalyse und dennoch auch hierzulande noch weitestgehend unbekannt, obwohl sie über 30 Jahre in Göttingen lebte und auf dem Groner Friedhof begraben liegt. Die meisten kennen sie in der Tat nur als Geliebte und Muse männlicher Geistesgrößen wie Rilke, Nietzsche und Freud. Und es ist dem JT bereits hoch anzurechnen, dass ihr durch dieses Stück ein längst überfälliges Denkmal in dieser Stadt gesetzt wird.
Doch zunächst ist von dieser nichts zu hören. Auf der Bühne entfaltet sich Ibsens Familiendrama. Auf dicht gedrängtem Raum gehen die Protagonisten im Kreis wie in einem Tigerkäfig. In der Mitte steht das Schlagzeug, das Rhythmus und Dramatik des Theaterabends erzeugt. Zu seinem zehnten Todestag soll dem hoch angesehenen Kammerherren Alvig ein Denkmal gesetzt werden. Seine Witwe bricht nun ihr jahrelanges Schweigen über den Mann, der in Wirklichkeit ein vergnügungssüchtiges und betrügerisches Ekel war, unter dem sie ihre gesamte Ehe hindurch gelitten hat. Gleichzeitig kommt ihr Sohn nach Hause, in dem sich eine schwere Krankheit auszubreiten beginnt. Dieser wiederum ist verliebt in das Dienstmädchen der Familie, welches sich als das uneheliche Kind des Kammerherrn und damit als seine Halbschwester herausstellt.
Ibsen ist ein Meister darin, bürgerliche Fassaden ins Wanken zu bringen, durch Zuspitzung alles Verdrängte und unter den Familienteppich Gekehrte zum Vorschein zu bringen und den Zuschauer in die Abgründe seiner Protagonisten gucken zu lassen. Das JT lässt aber noch eine andere Figur auftreten. Eine, die sich nicht damit zufrieden geben will, dass die anderen Figuren an ihrem Schicksal verzweifeln und ohnmächtig vor der eigenen Familiengeschichte stehen. Am Schlagzeug meldet sich Lou Andreas-Salomé zu Wort, »die erste Psychoanalytikerin der Stadt«. Sie unterbricht den Handlungsverlauf, lässt die Szene einfrieren und legt die Protagonisten auf die Couch.
Die Regisseurin Eva-Maria Baumeister und der Dramaturg Udo Eidinger wollten mit der Figur der Lou Andreas-Salomé Ibsens Fatalismus eine positive Perspektive aufs Leben entgegensetzen und das ist ihnen auch gelungen. Doch was geschieht mit dem bürgerlichen Drama, wenn der Fatalismus operativ entfernt wird? Was würde geschehen, wenn in jedem Stück von Ibsen, Tschechow oder Schnitzler ein aufgeklärter Bohemien aufträte, der alles besser weiß? Das JT hat diese Melange aus bürgerlichem Familiendrama und psychoanalytischer Reflexion wahrlich originell auf die Bühne gebracht. Aber es bleibt der unangenehme Beigeschmack einer besserwisserischen Didaxe. Die Tragödie, die auf der Bühne verhandelt wird, verwandelt sich in ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, in eine Tragödie die es nach dem Siegeszug der Psychoanalyse eigentlich nicht mehr geben kann, weil wir ja mittlerweile Gott sei Dank alle reflektiert und selbstbestimmt sind. Leider ist es ganz so einfach wohl doch nicht. Und Ibsens Fatalismus ist wohl leider auch aktueller, als das JT ihm zugestehen möchte.