Das Literarische Zentrum kündigte an: »Kafka – Die Jahrhundertbiografie«. Reiner Stach, der Jahrhundertbiograf, war im April zu Gast in der Düsteren Straße und sprach über sich, Kafka, Prag, schlechte Biografien und die Gründe, noch ein Buch über Kafka zu schreiben.
Von Anna-Lena Heckel
Nach dem Erfolg der ersten Bände Kafka. Die Jahre der Entscheidung (1910 – 1915) und Kafka. Die Jahre der Erkenntnis (1916 – 1924) ist im vergangenen Jahr der letzte Band von Reiner Stachs Biografie erschienen: Kafka. Die frühen Jahre (1883 – 1910). Dass das Literarische Zentrum an diesem Abend angesichts der Besucher_innenzahl aus allen Nähten platzt, ist sicher der Faszination Kafka zu verdanken. Hinzu kommt, dass die Lesung die Möglichkeit bot, den zu erleben, der sich achtzehn Jahre lang mit Kafkas Leben befasst hat. Dessen ist sich Stach durchaus bewusst. »1995 gab es schlicht keine brauchbare Kafka-Biografie«, erklärt er sein Großprojekt. Außerdem wurde zu dieser Zeit die kritische Kafka-Edition abgeschlossen und so wollte Stach die »Mosaiksteine« der Vita Kafkas zusammensetzen.
Stachs Anspruch an diesen letzten der drei Teile seiner Kafka-Biografie war es, nicht nur aus Kafkas Jugend zu erzählen, sondern auch Basiswissen für die schon erschienenen Bände nachzureichen: Die umfassende Darstellung Prags mit seinen Konflikten zwischen Deutschen und Tschechen, mit offensivem Antisemitismus und den ständig neuen Technologien kommt dabei ebenso in den Blick wie die Darstellung der familiären Umgebung Kafkas. Betrachtet man Kafkas Jugend, ist zudem spannend, wie sich Charakter und Sexualität entwickeln, ebenso wie frühe Freundschaften, wie etwa die zu Max Brod. Und nicht zuletzt sind die frühen Jahre die Phase der Bildung und Ausbildung eines Menschen, die Stach ebenso beleuchtet wie Kafkas erste literarische Versuche. Denn selbst dieser musste ausprobieren, seinen Weg finden und üben: Kafka war kein Komet.
Die Welt, in der die Figuren der Beschreibung [eines Kampfes] sich bewegen, schwankt, sie selbst schwanken wie Menschen in unsicheren Booten […]. Der Boden hingegen, auf dem die Figuren des Process- und des Schloss-Romans stehen, schwankt nicht, er vibriert vielmehr, wie beim Herannahen einer Katastrophe oder wie in der Nähe eines furchtbaren, wiewohl unsichtbaren Kraftzentrums.
Durch die Auswahl der Kapitel, aus denen Stach an diesem Abend liest, (Jüdische Lektionen, Unschuld und Freiheit, Literatur und Fremdenverkehr) und seine ergänzenden Schilderungen gibt der ehemalige Publizist und Lektor dem Publikum Einblick in das breite Spektrum des dritten Bandes. Wie im Buch, so schafft er es, Phänomene wie die damalige Sexualmoral an konkreten Beispielen zu veranschaulichen. Dies gilt auch für sein eigenes Vorgehen: immer wieder erläutert er seine Herangehensweise, die anhand der gewählten Auszüge nachzuvollziehen ist.
»Schlechte Biographien meinen, man könne private von allgemeiner Mentalitätsgeschichte trennen«, konstatiert Stach.
Das will der Kafka-Biograph ebenso wenig wie eine Reihe von Werkinterpretationen vorzulegen oder den jungen Franz mithilfe psychologischer oder psychoanalytischer Fachtermini zu beschreiben. Aber wie will er denn arbeiten? »Szenisch erzählen« heißt seine Lösung, um der Komplexität entscheidender Momente gerecht zu werden. Nur so könne man empathisch mit den Einflüssen privater und gesellschaftspolitischer Art umgehen, die für Kafkas Vita von Bedeutung sind. So bildet er Alltägliches ab: »Ein Bett, ein Nachtkästchen, ein Waschtisch. Ein Regal mit einigen Büchern.« Und darin »der Jurastudent Franz Kafka. Er trägt eine Hose und bequeme Hausschuhe, sein Oberkörper ist mit einem leichten weißen Hemd bekleidet, das weit offen steht, so dass die hervortretenden Rippen deutlich zu sehen sind.«
In der Tat gelingt ihm die Balance zwischen historischer Dokumentation und dem Erzählen, sodass sich die Biographie fast wie eine Erzählung liest und zugleich das Fundament sorgfältiger Recherche offenbart. Damit liefert er ein Bild des jungen Kafka, das differenzierter ist als der Mythos des einsamen, ängstlichen Jungen. Die Motive aus Kafkas Werk greift er immer wieder auf, ohne sich in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zu ergehen, und lässt beides einander bereichern. So auch über den Wunsch, Indianer zu werden: Kafka liest im Prager Tagblatt von einem deutschböhmischen Adoptivsohn eines berühmten Comanchenhäuptlings.
Eine für Kafka, den Liebhaber von Abenteuergeschichten, gewiss erregende Nachricht. Man konnte also Indianer werden, nicht anders als man Versicherungsbeamter wurde: durch Entschluss, Bewerbung und Dekret. Hier hatte jemand seinen Platz gewählt. Das gab zu denken und zu träumen.
Zu sagen bleibt, dass Kafka. Die frühen Jahre mit Detailreichtum und feinsinnigem Sprachgebrauch überzeugt. Kurzweilig, erschlägt es nicht trotz der Fülle an Information. Man beendet diese Lektüre mit dem Gefühl, Kafka etwas besser zu kennen, nicht aber ihn vollkommen zu durchschauen – die Faszination Kafka bleibt bestehen, und das ist großartig.