Erwähnung von Antisemitismus
Geschichte der deutschen Seminarbibliothek, Teil 1: Die Bibliotheken der deutschen und skandinavischen Seminare teilen sich zu Beginn eine Geschichte. Sie handelt von Erfolgen und Verwerfungen, von Machtstrukturen und ungleicher Teilhabe, von Idealismus und Nationalgehabe und beginnt mit engagierten Studierenden vor 133 Jahren.
Von Philip Flacke
Wenn ich eine Liste meiner Göttinger Lieblingsplätze aufschreiben müsste, stünde die Bibliothek des Deutschen Seminars ziemlich weit oben. Sie ist ein wunderbarer Ort, muckelig-verwinkelt, ruhig, ohne verbissen arbeitsam zu sein, mit Lesenden, die sich auf dem Flur begegnen oder Spuren voneinander finden, in Form von Bücherstapeln oder zwischen Buchdeckeln.1 Das Wichtigste – und ärgerlich, wenn man ›nur mal kurz was kopieren‹ will: Die 130.000 Bände sind ein unerschöpflicher Schatz noch zu machender Entdeckungen, bereitwilliger Auskunft und ästhetischen Vergnügens.
Als mir 2012 die Bibliotheksverwaltung eine Benutzer*innenkarte ausstellte, kurz bevor diese Praxis eingestellt wurde, gestand sie mir – wie jedem*r Studierenden der deutschen oder skandinavischen Philologie – einen Platz an diesem Ort zu. Seitdem habe ich das Kärtchen immer und überall bei mir, was man ihm inzwischen auch ansieht. Das Seminar und die Seminarbibliothek tragen dazu bei, dass ich mich in Göttingen zu Hause fühle.
Wir Studierenden (mit oder ohne Kärtchen), die heute in der Bibliothek lesen und schreiben, verdanken diesen Ort maßgeblich unseren Kommiliton*innen vergangener Semester. Sie haben nicht nur durch Anschaffungswünsche den heutigen Bestand mitgeprägt. Die Geschichte der Bibliothek nimmt Ende des 19. Jahrhunderts mit engagierten Studierenden erst ihren Anfang. In den ersten anderthalb Jahrhunderten der Universitätsgeschichte gab es in Göttingen noch kein deutsches oder skandinavisches Seminar und auch keine germanistischen oder skandinavistischen Fachbibliotheken.2
Jacob und Wilhelm Grimm zum Beispiel mussten ohne sie auskommen. Ihre nächstgelegene Bücherquelle in ihrer Göttinger Zeit ab 1829 war, neben eigenen und von anderswo ausgeliehenen Büchern, die Königliche Universitätsbibliothek am Papendiek, in der sie neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit als Bibliothekare arbeiteten.3 Germanistische Lehrveranstaltungen gab es zwar bereits: Karl Stackmann verortet ihren Anfang bei einer Vorlesung Georg Friedrich Beneckes im Sommersemester 1806.4 Aber eigene Räumlichkeiten fehlten dafür noch; die Professoren dozierten üblicherweise bei sich zu Hause, was im Fall Jacob Grimms durch eine Federzeichnung seines Bruders Ludwig Emil festgehalten ist.
Auf Initiative von StudierendenAn dieser Situation hatte sich bis in die 1880er Jahre wenig geändert. Die öffentliche Stadtbibliothek (gegründet 1897 als ›Volksbibliothek‹) und die mehr oder weniger öffentliche Akademische Lesehalle (gegründet 1915) gab es noch nicht – und eben auch noch immer keine germanistische Seminarbibliothek.5 Am 6. Dezember 1887 übersandten deshalb 48 »Studierende[] der deutschen Sprache zu Göttingen« ein Bittschreiben an den preußischen Kultusminister6 – denn seit 1866 gehörte Göttingen nicht mehr zum Königreich Hannover, sondern zu Preußen. In dem Brief bitten sie, so der Betreff, um die »Einrichtung eines Seminars«. Germanistische Lehrveranstaltungen gab es ja bereits.7 Was die Studierenden sich nun wünschten – was sie ›Seminar‹ nannten – , war eine feste Gruppe Seminarmitglieder, die in eigenen Räumlichkeiten »zu festgesetzten Stunden […] zusammenkommen, um unter Anleitung des Seminardirektors forschungsorientiert zu lernen«; dazwischen würden eigenständige Seminararbeiten geschrieben.8
Vor allem aber unterschied sich das Seminar, das später auch der akademischen Lehrform den Namen geben sollte, von der Zusammenkunft bei einer Übung durch eine eigene Seminarbibliothek mit eigenem Etat.9 Das Fehlen einer solchen ist das Hauptargument der Studenten im Brief an den Minister: »Seit langer Zeit«, so beginnen die Bittsteller ihr Gesuch, »vermissen die Studierenden der deutschen Sprache und Altertumskunde in Göttingen ein Seminar mit entsprechender Fachbibliothek, wodurch denselben Gelegenheit geboten sein würde, die einschlägige Literatur in ausgiebigerer Weise benutzen zu können, als solches mit Hülfe der Kgl. Universitätsbibliothek möglich ist.«10 Die Anfänge der Bibliothek und des Seminars hängen also ganz unmittelbar miteinander zusammen.
Die Studenten waren sich bewusst, dass die Göttinger Germanistik institutionell den anderen Philologien in Göttingen hinterherhinkte: »Die Studierenden der alten wie der neueren Sprachen hieselbst geniessen seit längerer Zeit den Vorteil jener Einrichtungen.«11 Das (alt)philologische Seminar gab es schon fast so lange wie die Universität,12 ein romanisch-englisches Seminar seit 1882.13 Die Gegenwart der Bittsteller lag mitten in einer Zeit vielseitiger Veränderungen in der Universität und im Stadtbild. Seit den 1870ern bis etwa zur Jahrhundertwende wurde eine Reihe Institute und Seminare gegründet, die eine neue Ausdifferenzierung von Fächern abbildete.14
Zwischen Orchideenfach und ›nationaler Bedeutung‹Auch im Vergleich mit anderen Universitäten stehe die Göttinger Germanistik ohne Seminar schlecht da, argumentierten die Studierenden: »Auf den übrigen preussischen Universitäten sollen auch die Germanisten sich der bezüglichen Vorteile [derjenigen also, die ein eigenes Seminar bietet] erfreuen.«15 Seit den 1870er Jahren waren vermehrt germanistische Seminare an deutschsprachigen Universitäten gegründet worden; 1887 gab es in Preußen nur noch zwei Hochschulen ohne ein solches – Göttingen inbegriffen.16 Jost Hermand erklärt diesen Institutionalisierungsschub mit
Die Reihe ermöglicht Autor*innen wie Leser*innen eine kritische Auseinandersetzung mit Teilen der Fachgeschichte von Germanistik, Skandinavistik und Anglistik (alle drei angesiedelt am Jacob-Grimm-Haus/siehe Titelbild) in Göttingen. Was haben Koryphäen des Fachs im NS getrieben? Was schrieben die Grimms außer Märchen? Zu diesen und weiteren Themen informiert ihr euch hier.
Weder in der Bittschrift der Studenten, noch in den Verhandlungen der auf die zunächst abgelehnte Bittschrift folgenden zwei Jahre18 bis zur Gründung des deutschen Seminars 1889 spielte die Lehrerausbildung, soweit sich aus dem Schriftverkehr ersehen lässt, eine Rolle. Von einer »nationalen Bedeutung« ihres Faches ist bei den Studenten auch nicht die Rede – dafür aber einige Jahre später vonseiten der Direktoren des nun gegründeten Seminars, als diese um die Bewilligung von Geldern ringen müssen. Implizit scheinen sie für ihr Fach zu beanspruchen, dass es für den Nationalstaat besonders förderungswürdig sei.19 Worin die besondere Bedeutung aber begründet ist, lassen sie offen, anstatt sie etwa konkret an die Ausbildung von Lehrkräften zu binden.
Wie die Studenten, deren Anliegen er zusammen mit seinem Kollegen Wilhelm Müller unterstützte, argumentierte auch der Göttinger Germanist Moriz Heyne zunächst mit einer Verbesserung der Studienbedingungen.20 Darüber hinaus versprach er sich von der Einrichtung des Seminars einen Vorteil in eigener Sache: Interessierte Seminaristen sollten – und zwar gegen Lohn – bei der durch die Grimms begonnenen Arbeit am Deutschen Wörterbuch helfen, mit der Heyne seit 1867 zusammen mit Kollegen in anderen Städten betraut war. Schon im März 1888 schrieb Heyne diesbezüglich an den Verleger des Wörterbuchs und erläuterte sein Vorhaben. Das vom Reich durch Büchergeld bezuschusste Projekt würde den Etat der Universität eher ent- als belasten und den Studenten eine Arbeit bieten, »die lehrreicher als jede andere Seminarübung ist«.21 Um das zu erreichen, stellt Heyne in seinen Briefen immer wieder die besondere Tragweite des Wörterbuchprojekts heraus – nicht allein für die Wissenschaft, sondern für eine Gesamtheit ›der Deutschen‹ –, indem er es »das Nationalwerk« nennt.22 Die Zusammenarbeit zwischen Seminar und Wörterbuch wurde aber zunächst nicht in dem Maß bewilligt wie von Heyne gewünscht.23
Generell lassen sich in den Verhandlungen um die Finanzierung zwei Positionen herausarbeiten: Philologisch motiviert gaben sich die Studenten, die ihre Wissenschaft durch nichts anderes legitimierten als aus sich selbst heraus. Politisch motiviert gaben sich die späteren Direktoren, indem sie ihrer Arbeit einen Wert für die Gemeinheit zusprachen. Aber weder dürfen die gegenüber potentiellen Geldgebern vorgetragenen Argumente als authentische Selbstaussagen missverstanden werden, noch lassen sich die Positionen so einfach personell zuordnen. Die Perspektive der Studierenden ist viel zu schlecht fassbar, die Darstellung vonseiten der Dozenten von Anfang an merkwürdig janusköpfig: Mal gab man sich als Orchideendisziplin hochspezialisierter Sprachenthusiasten im kleinen Arbeitskreis, mal als elementare Wahrer von Kultur und Ordnung. Diese Spannung sollte weit über die Anfänge des Seminars hinaus bestehen bleiben.
Ein Ort mit BarrierenAm 28. Februar 1889 genehmigte das Ministerium die Einrichtung des Seminars zum Sommersemester.24 Es dauerte bis zum beginnenden Wintersemester, bis die Seminarmitglieder die ihnen zugeteilten Räumlichkeiten beziehen und den Seminarbetrieb aufnehmen konnten.25 Sie bekamen zwei Räume im Obergeschoss des ehemaligen Universitätsherbariums zugewiesen, dem sog. Gehilfenhaus am Botanischen Garten (Untere Karspüle 1).26 Die Adresse hatte bereits einige Jahre zuvor Eingang ins Deutsche Wörterbuch gefunden: »KARSPÜLE, f. aufwasch, was aus den karn, küchengefäszen und schüsseln gespült wird, spülich […]. in Göttingen gab es im 15. jh. eine strasze, de Karspoele.«27
In der Universitätschronik, einem seit kurzem erscheinenden jährlich gedruckten Mitteilungsorgan,28 werden die Räumlichkeiten beschrieben: Diese »bestehen aus einem grösseren hellen und freundlichen sechsfenstrigen Zimmer, in dem die Übungen des Seminars gehalten werden und die Handbibliothek sich befindet, und einem kleineren Nebengemach.«29 Die Anzahl der Seminaristen wurde auf 20 beschränkt,30 als Direktoren fungierten Moriz Heyne und Wilhelm Müller. Als Müller 1890 starb, übernahm Gustav Roethe das Amt des Mitdirektors,31 und ein großes Porträt von Müller wurde im kleinen Arbeitszimmer aufgehängt32 – eine Erinnerungspolitik, die heute am deutschen Seminar zurückhaltender betrieben wird als beispielsweise in der Skandinavistik, aber doch auch ihren Platz hat. Heynes Porträt zum Beispiel hängt schräg gegenüber der Aufsicht vorm Eingang der Bibliothek.
In einem Entwurf der Seminarstatuten regeln Heyne und Roethe die Nutzung der Bibliothek: Es sollte eine Präsenzbibliothek sein, in der alle Seminarmitglieder jederzeit alle Bücher vorfinden sollten. Jeweils eines der Mitglieder sollte von den Direktoren zum »Bibliothekar« ernannt werden. Dieser »hilft ihnen in der Verwaltung und Beaufsichtigung der Bibliothek, sorgt für das Einbinden der Bücher und führt den Zettel- und Sachkatalog, während der Accessionskatalog von einem der Directoren geführt wird.«33 Drei Kataloge anzulegen, war angesichts des Buchbestands der Anfangszeit sicherlich auf längere Sicht gedacht. Im ersten Jahr umfasste die Seminarbibliothek 182 Bände, im zweiten schon 846, im dritten 1167.34
Einerseits sollten Seminar und Bibliothek den Studierenden jederzeit den selbstständigen Zugang zu Materialien für eigenständiges Arbeiten ermöglichen, und die Direktoren gestanden ihnen ein hohes Maß an Autonomie zu. Kurz nach Aufnahme des Seminarbetriebs baten die Direktoren um Schlüssel für jeden Studenten, denn:
»Wir sehen den Hauptwert des Seminars darin, daß es den Mitgliedern Gelegenheit giebt, in seinen Räumlichkeiten jederzeit mit Hilfe der dort befindlichen kleinen Bibliothek arbeiten zu können«.35
Andererseits war dieser Zugang ein Privileg von Wenigen. Nur fortgeschrittene Studenten durften Mitglieder des Seminars werden und die Bibliothek benutzen. Dazu mussten sie sich bei den Direktoren bewerben, die dann über die Aufnahme entschieden.36 Frauen hatten erst einmal keine Chance auf Teilhabe: Studentinnen wurde der Zugang zur Hochschule als Gasthörerinnen erst ab 1892 manchmal erlaubt, ein reguläres Studium in Preußen ab 1908.37 Seminardirektor Roethe setzte sich in Göttingen 1892 gegen die Zulassung von Gasthörerinnen ein38 und protestierte, als Mitdirektor Heyne zwei Jahre darauf eine Studentin zu seinen Vorlesungen zuließ.39 Dass neben dem Geschlecht die soziale Klasse entscheidenden Einfluss darauf gehabt haben dürfte, wer zu den Benutzer*innen der Seminarbibliothek gehörte und wer nicht, versteht sich leider fast von selbst. Ob auch Antisemitismus bei der Aufnahme von Seminarmitgliedern eine Rolle spielte, ist eine schwierige Frage und muss hier offen bleiben.40
Aufbau eines BestandesDer älteste erhaltene Akzessionskatalog, also ein Zugangsbuch mit den erworbenen Titeln, chronologisch nach Eingang sortiert, überliefert die ersten Buchanschaffungen. Angesichts der äußerst knapp bemessenen Mittel41 mussten die Direktoren Prioritäten setzen. Möglich war
»lediglich die Anschaffung einiger besonders unentbehrlicher Wörterbücher und Grammatiken; von Ausgaben ältrer und neurer Schriftsteller, diesem wichtigsten Handwerkszeug der Philologen, konnte nur ganz Weniges beschafft werden, und auf den Ankauf der philologischen Zeitschriften mußten wir vollkommen verzichten, so dringend dieselben bei den Seminararbeiten auf Schritt und Tritt gebraucht werden.«42
Außer einer Vielzahl deutscher Wörterbücher für verschiedene Sprachstufen des Deutschen wurden im ersten Jahr auch zwei altnordische Glossare angeschafft, außerdem Grammatiken des Alt- und Mittelhochdeutschen, des Alemannischen, Bairischen, Mecklenburgischen, Alt- und Mittelniederländischen, Altfriesischen, Altenglischen, Altnordischen und Gotischen. Dazu kommen literarische Texte dieser Sprachen und Dialekte, wobei das Mittelhochdeutsche das Hauptgewicht erhielt, schließlich Monographien, Sammelbände und wenige Zeitschriften und literaturgeschichtliche Überblicks- und Nachschlagewerke wie Karl Goedekes Grundriß und Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Litteratur.43 Ein Großteil dieser ersten Buchanschaffungen ist offenbar in den heutigen Beständen des deutschen und skandinavischen Seminars noch vorhanden und trägt meist den Stempel »Kgl. Deutsches Seminar Göttingen«, häufig mit handschriftlichem Vermerk alter Signaturen.
An den Bibliotheksbeständen lässt sich das Verständnis der Göttinger Germanisten von ihrer eigenen Wissenschaft ablesen,44 die, so Heyne, »das weite Gebiet von Island bis zu den Alpen und zeitlich vom 4. Jahrhundert [der Entstehungszeit einer partiellen gotischen Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila] bis auf jetzt beschlägt«.45 Von den germanischen Sprachen fehlt hauptsächlich das Englische, das ja in Göttingen bereits in ein anderes Seminar integriert war. Tatsächlich hatte Heyne vorm Einzug in der Unteren Karspüle zwecks interdisziplinären Austauschs versucht, sein Seminar in der Nachbarschaft des englisch-romanischen Seminars unterzubringen.46 Die Bibliothek sollte Editionen, aktuelle Forschung und wissenschaftliche Hilfsmittel bereitstellen, die literaturwissenschaftliches Arbeiten ebenso ermöglichten wie linguistisches im Sinne einer historischen Sprachwissenschaft, literaturgeschichtliches Wissen ebenso vermittelten wie Grammatikkenntnis.
Ausgaben neuerer deutscher Literatur wurden ab dem zweiten Jahr gekauft, und dies gleich in beachtlicher Zahl.47 Zuerst findet sich in den Zugangsbüchern ein Göttinger: der Hainbündler Johann Anton Leisewitz. Als Nächster kommt der junge Goethe. Überhaupt lag das Hauptgewicht zunächst auf deutschsprachigen Autoren des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, besonders in Werkausgaben: Heinrich von Kleist, Immermann, Gellert, Gleim, Jean Paul, Lessing, Wieland standen als erste nicht-mittelalterliche Autoren mit gesammelten Schriften in den Regalen, dann Goethe, Klopstock, Herder, Hagedorn, Platen, Schiller und Bürger. Die erste Autorin literarischer Werke im Bibliotheksbestand war Annette von Droste-Hülshoff. Literatur des Barock wurde in geringer Bandzahl angeschafft, zeitgenössische Texte des Realismus und Naturalismus gar nicht, ebenso wenig skandinavische Texte der Neuzeit.
Nachbarschaft mit der UniversitätsbibliothekNur drei Jahre nach der Gründung zog das Seminar 1892 in die Paulinerstraße um, wo vier Räume zur Verfügung gestellt wurden.48 Die 1167 Bände der Bibliothek wurden hier nicht mehr im selben Zimmer aufgestellt, in dem auch die Übungen – nun als ›Seminarübungen‹ bezeichnet – stattfanden.49 Der Ort bot besondere Möglichkeiten, sich in eine Tradition einzuschreiben: Einer der Räume war »jenes Zimmer, in dem einst Jacob Grimm seine ersten Vorlesungen gehalten haben soll und von wo wir zu [Gottfried August] Bürgers Wohnung hinüberblickten«.50 Bilder von Jacob und Wilhelm Grimm und Karl Lachmann, dem Begründer einer germanistischen Editionswissenschaft, wurden aufgehängt – Lachmanns zuerst.51
Eine irritierende Meldung gibt die Universitätschronik zur Jahrhundertwende: »Die Schätze der hiesigen städtischen Altertumssammlung« – diese war 1889 von Heyne gegründet worden und bildet den Grundstock des heutigen Städtischen Museums52 – »haben es ermöglicht, dass im Sommer 1899 auch die meist bedauerlich vernachlässigte archäologische Seite der deutschen Philologie in den Bereich der Seminarübungen gezogen werden konnte. Um die geschichtliche Anschauung zu stärken, sind die hübschen vom westpreussischen Provinzialmuseum herausgegebenen prähistorischen Wandtafeln im Arbeitszimmer des Seminars aufgehängt worden.«53
Warum beschäftigen sich Germanisten mit Gegenständen, die nicht sprachlicher Natur sind und zudem wenigstens teilweise deutlich älter als die überlieferten volkssprachigen Texte? Dahinter steht eine Auffassung der eigenen Wissenschaft, die über die Texte hinaus die (wohl im Singular gemeinte?) ›germanische Kultur‹ in den Blick nimmt.54 Schon die Selbstbezeichnung der 48 Studenten, die 1887 an das Ministerium geschrieben hatten, hatte changiert zwischen »Studierenden der deutschen Sprache« und »Studierenden der deutschen Sprache und Altertumskunde« – zwischen auf deutsche Sprache und Literatur beschränkter Philologie und einer Wissenschaft, die über diesen Gegenstand hinauszugehen scheint. Der Unterschied zwischen ›Germanischer Altertumskunde‹ und ›Volkskunde‹ ist dann schwer zu fassen.55
Völlig neu war die Entwicklung allerdings nicht.56 In einem Brief von 1927 beschreibt der Dekan Hecht, dass »die Volkskunde […] in Göttingen seit langer Zeit im germanistischen Lehrbetrieb eine wichtige Stellung eingenommen« und schon zu Zeiten Heynes, Roethes und Schröders »eine bedeutende Rolle in ihren Vorlesungen gespielt« habe.57 Das machte sich an den Bibliotheksbeständen bemerkbar: Nach der Einbeziehung der »archäologischen Seite der deutschen Philologie« beschreibt die Chronik für 1889 weiter, dass bei der Erwerbung von Büchern u.a. das Gebiet »der Volkskunde reicher berücksichtigt werden [konnte], als das bisher leider möglich war«.58
Als 1907 das Deutsche Wörterbuch eigene Räume bekommen sollte, setzte man voraus, dass »die für Wörterbuchzwecke besonders gut gerüstete Bibliothek des dortigen Deutschen Seminars bequem zugänglich wäre«.59 Für diese Zeit fehlen die Angaben über die Anzahl der Bücher; sie wird deutlich über 2000 betragen haben – eine Marke, die mit der Jahrhundertwende überschritten worden war.60 Weil, ebenfalls 1907, statische Probleme am Gebäude festgestellt wurden, keine weiteren Bücher mehr dort aufgestellt werden durften und ohnehin der Platz immer enger wurde, wurde ein Teil der Bibliothek in die Räumlichkeiten des Wörterbuchs ausgelagert.61 Im Jahr 1911 wurde sogar ein Anteil des Bibliotheksetats einbehalten, weil neue Bücher nicht mehr hätten untergebracht werden können.62
Einzug ins ›Seminargebäude‹1912 wurde am Nikolausberger Weg 13/15 (heute Hausnummer 15) ein Neubau fertiggestellt, der für die Unterbringung verschiedener geisteswissenschaftlicher Seminare gedacht war und deshalb als ›Seminargebäude‹ bezeichnet wird.63 Jetzt gab es wieder Platz für neue Bücher – wenn auch nicht viel mehr als vorher: Das deutsche Seminar erhielt ein Direktorenzimmer und zwei weitere Räume im ersten Stock des Straßenflügels.64 Resigniert schrieb der Direktor Edward Schröder an seinen Schwager und Vorgänger Roethe: »Es wird ja alles recht hübsch – nur wieder viel zu knapp.«65 Ausgaben literarischer Texte und Grammatiken wurden in einem großen Übungsraum aufgestellt, der »in Hufeisenaufstellung der Tische mit einem kleinen Tisch im Zentrum 40 bequeme Sitzplätze [bot], die, abgesehen von den Übungsstunden, den Mitgliedern beider Seminarstufen [einer Mittel- und einer Oberstufe] zur Verfügung stehen«; ein angrenzender kleiner Arbeitsraum für Doktoranden beherbergte »Sammelwerke, Zeitschriften, Wörterbücher und Novitäten«.66
Das angesparte Büchergeld konnte ausgegeben werden, was, so Schröder, »besonders der neueren und neusten Literatur zugute kam«.67 Gemeint sind in erster Linie Bücher von Fachgelehrten (darunter Bände der neuen Sammlung Thule), mit Detlev von Liliencron, Gerhard Hauptmann und Arthur Schnitzler waren aber auch Vorbereiter und Vertreter der Moderne unter den Neuzugängen.68 Es entspricht der Erwerbungspolitik des Seminars, dass man ihre Texte in (gerade erschienenen) Werkausgaben kaufte – an denen sich bereits eine Kanonisierung der Autoren ablesen lässt. Eine eigene Ausleihbibliothek gab es nicht – anders als im englischen und im romanischen Seminar ein Stockwerk darüber.
Außer Veranstaltungen einer Mittel- und Oberstufe mit 30 und 42 Mitgliedern gab es zwei Proseminare, die von jeweils »weit über 100 Studierenden belegt« wurden. Direktor Schröder sehnte sich offenbar nach beschaulicheren Verhältnissen zurück: »[W]ir müssen im Interesse sowohl des philologischen Studiums wie der späteren Laufbahn unserer Schüler wünschen, daß der starke Andrang nachläßt und die Zahlen zurückgehn.«69
Schröders Wunsch erfüllte sich auf furchtbare Weise. Zu Beginn des Weltkriegs meldeten sich beinahe alle männlichen Seminarmitglieder freiwillig zum Kriegsdienst.70 Nun wuchs der Anteil von Studentinnen beträchtlich, die zwar seit Winter 1908/09 offiziell studieren durften, bisher aber in den Lehrveranstaltungen und damit auch unter den Benutzer*innen der Bibliothek wohl noch in der deutlichen Minderheit waren.71 Außerdem wurden insgesamt die Aufnahmebedingungen gelockert. Der Seminarbetrieb lief weiter und die Studierenden halfen sogar mit, einen neuen Zettelkatalog anzulegen. Dabei arbeiteten sie auch »viele Bücher« aus dem Nachlass eines Kommilitonen ein, der gerade im Krieg gestorben war.72
Ein fürchterlich politischer OrtStudierende waren es, die 1887 die Initiative ergriffen, ihre Studiensituation zu verbessern und sich für die Einrichtung eines Seminars mit Bibliothek einzusetzen. Ihnen verdanke ich heute einen Ort, an dem ich gerne lese und bin. Er ist und war ein gemeinsamer Arbeitsraum, an dem sich Neulinge und Erfahrene begegnen. Er führt an wissenschaftliche Praxis heran und ermöglicht diese. Er macht einem mal mehr, mal weniger exklusiven Kreis von Benutzer*innen Wissen und Gegenstände ästhetischen Genusses verfügbar und bringt diese in ein Ordnungssystem, das selbst Wissen generiert.73 Zugleich beeinflusst die Seminarbibliothek unser Wissen und unsere Weltsicht. So wie sich an ihrer Geschichte unterschiedliche Auffassungen der eigenen Wissenschaft, ihrer Methoden und Gegenstände, ihrer Aufgaben und Relevanz und ihrer Grenzen nachvollziehen lassen, so wirkt sie auch auf all das zurück.
Vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn die Bestände ganz andere gewesen wären; vielleicht hätte sich nicht ein Germanist weniger zum Kriegsdienst gemeldet. Der Germanistik politischen Einfluss über ihre Fachgrenzen hinaus zu bescheinigen, würde vermutlich in den allermeisten Fällen bedeuten, ihre Relevanz zu überschätzen. Aber dennoch hängen sie zusammen: die Geschichte der Seminarbibliothek und die Bereitschaft ihrer Benutzer, für ihr Land zu töten und zu sterben. Der Anspruch, zur Bestimmung und Legitimierung der Nation beizutragen, war mit der Institutionalisierung der Germanistik in Göttingen nicht erledigt. Vielmehr zeigen die Bestückung des Bibliotheksbestands, die Einrichtung der Bibliothek, die Art und Weise, ihre Finanzierung zu legitimieren, über die ersten Jahrzehnte hinweg, wie die germanistischen Gegenstände und die germanistische Praxis zunehmend mit so etwas wie ›Deutschhaltigkeit‹ aufgeladen wurden. Von deutscher Sprache und Literatur bis hin zu den Gegenständen einer ›Germanischen Altertumskunde‹ blieb, was in den Bibliotheksbüchern stand, eine nationale Angelegenheit, und ihre Lektüre ermöglichte, unter anderem, eine vermeintliche Erfahrung nationaler Kontinuität.
Einen solchen Umgang mit Literatur und Wissenschaft im Sinne einer dezidiert deutschen Kulturtradition skizziert der Neugermanist Richard Weißenfels Weihnachten 1915 in einem Gedicht »An meine Schüler im Felde«.74 Seit neun Jahren Dozent am Göttinger Seminar kannte er seine Adressaten persönlich.75 Er preist die Treue der Soldaten, die aus seiner Sicht für den Erhalt einer gemeinsamen Kulturtradition ihr Leben riskierten – »[f]ür alles Gute, Schöne […], / Was euch die Heimat früh gegeben«. Die philologische Vorlesung wird zum Erleben nationaler Gemeinschaft und Kontinuität stilisiert, deren Verteidigung mit Waffen konsequent und rühmlich erscheint. Bis in die Wortwahl hinein reicht die Engführung von Krieg und Germanistikstudium: Im Hörsaal sind die Studierenden, mit einem militärischen Ausdruck gesprochen, gleich einer Heeresabteilung ›geschart‹. So führt der Weg vom Seminar ins Feld –
»Dann denk’ ich, daß ihr seid die gleichen,
Die einst im Hörsaal still geschart
In unsrer Dichtung weiten Reichen
Mit mir gefühlt die deutsche Art.«
Weißenfels’ Stilisierung seines Faches ist extrem, aber nicht originell. Sie kann an verschiedenen Punkten anknüpfen an die Beschwörung nationaler Bedeutung seit den Grimms, und auch an die Konzeption des eigenen Faches als ›Germanische Altertumskunde‹ und ›Volkskunde‹, wie sie Heyne und die ersten Studenten vorbereitet hatten. Die Fachgeschichte hat Spuren hinterlassen – auch in der Seminarbibliothek, die niemals ein unpolitisches und verklärungswürdiges Bibliophilenidyll außerhalb der Welt war und es niemals sein wird. Um solchen Spuren zu begegnen und einer einseitigen Verklärung nicht zu erliegen, ist es nötig, ihnen nachzugehen.
Der zweite Teil der Geschichte der Seminarbibliothek wird demnächst auf Litlog erscheinen.