Clemens J. Setz hat sein viertes Buch geschrieben. Im Herbst 2012 veröffentlichte der Österreicher seinen Roman Indigo, dessen Einband und Typographie Judith Schalansky gestaltet hat. Mit seiner Mischung aus Science-Fiction-Thriller, eigener Lebensgeschichte, Kuriositäten und Anekdoten landete er sogleich auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.
Von Christian Dinger
Es ist eine rätselhafte Krankheit, die seit dem Ende der 90er bei zahlreichen Kindern diagnostiziert wurde. EsoterikerInnen haben früher bei einigen Kindern eine indigofarbene Aura gespürt und daher haben sie ihren Namen: Indigo-Kinder, I-Kinder oder – politisch inkorrekt und zum Schimpfwort umgeformt – Dingos. Menschen, die sich in der unmittelbaren Nähe dieser Kinder aufhalten, klagen über Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Brechreiz oder Durchfall. Mütter erbrechen sich in Kinderwägen, Eltern leiden unter chronischen Kopfschmerzen oder fallen in Ohnmacht, wenn sie sich zu lange in der Gegenwart ihrer Kinder aufhalten.
Der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz, der von jeher eine Vorliebe fürs Phantastische, Absurde und Groteske hegt, hat mit Indigo einen Roman geschrieben, der daherkommt wie ein dystopischer Science-Fiction-Thriller, sich bei näherer Betrachtung aber jeglicher Kategorisierung entzieht. Nur knapp hat er dieses Jahr den Deutschen Buchpreis verfehlt. Der gelernte Mathematiker Setz hat ein Werk konstruiert, dessen Kapitel ein untereinander vernetztes und verflochtenes Gewebe ergeben, das sich über mehrere Zeitebenen erstreckt und immer wieder durchsetzt ist von kleineren kuriosen Geschichten und Anekdoten. Zwei grundlegende Handlungsstränge lassen sich aber ausmachen:
Da ist zum einen der junge Ich-Erzähler Clemens Setz, der mit seinem Autor nicht nur den Namen, sondern auch die meisten biographischen Details und offensichtlich auch diverse Charaktereigenschaften teilt. Setz hat gerade sein Lehramtsstudium der Mathematik und der Germanistik in Graz abgeschlossen und beginnt nun sein praktisches Jahr in einem Internat in der Südsteiermark: der Helianau. Dort werden Indigo-Kinder unterrichtet – in großen Hörsälen, in denen sie viele Plätze Abstand vom jeweils anderen halten müssen. Doch irgendetwas Seltsames scheint vorzugehen in dieser Lehranstalt. Es gibt so genannte »Relokationen«. Einige Kinder werden von Unbekannten abgeholt und kommen nicht mehr wieder. Setz beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen…
Die Art und Weise der Gestaltung verstärkt das Spiel mit Authentizität, dem sich der Autor verschrieben hat. Einband und Typografie des Buchs sind auf unverwechselbare Weise von Judith Schalansky entworfen worden. Der ganze Roman ist wie eine Sammlung von Dokumenten aufgebaut. Es tauchen Erfahrungsberichte und Zeitungsartikel auf, die durch verschwommene Fotografien illustriert wurden, sowie scheinbar aus anderen Büchern herauskopierte Geschichten (wie zum Beispiel eine angebliche Kalendergeschichte von Johann Peter Hebbel, die aber tatsächlich nur in diesem Roman existiert). Es wird zwischen den Kapiteln etwa vom einsamsten Baum aller Zeiten erzählt, einer Schirmakazie in der Ténéré-Wüste, 250 Jahre lang der einzige Baum im Umkreis von 400 Kilometern, bis 1973 ein betrunkener Libyer mit seinem Truck dagegen fuhr und den Baum fällte.
Es sind rätselhafte Geschichten rund um die Einsamkeit wie diese, in denen Setz sein erzählerisches Potential beweist, das in diesem Roman einen neuen Höhepunkt erreicht. An anderer Stelle lässt er Robert detailgenau über die Frage phantasieren, was aus den vielen Männern geworden ist, von denen man sagt, sie wollten nur mal eben Zigaretten holen: Durch das Drücken einer bestimmten Kombination der Markentasten öffnet sich der Zigarettenautomat und sie gelangen durch einen geheimnisvollen Gang in die »Große Unterirdische Transitstation«, von wo aus sie in alle Großstädte der Welt fahren können. Junge Männer, die unbeabsichtigt eine Frau geschwängert haben oder aus anderen Gründen ihrem alten Leben entfliehen wollen, entschwinden so unauffällig mit einem neuen Namen in einen anderen Kontinent.
Dass Clemens Setz seiner Hauptfigur den eigenen Namen und bis zu einem gewissen Grad auch die eigene Lebensgeschichte gibt und um diese Figur eine Geschichte spannt, die für jeden ersichtlich frei erfunden ist, ist nicht nur ein dichterisches Spiel mit Fiktionalität. Der Anti-Hipster Setz hält mit Indigo der authentizitätsversessenen Leserschaft den Spiegel vor. Geschichten seien nicht dazu da, »unsere Wirklichkeitsdrüsen zu massieren«, sagte er einmal in einem Interview auf dieFrage, wie viel Wirklichkeit in seinem Roman stecke. Es ist gut, dass es Autoren wie Clemens Setz gibt, die sich noch trauen etwas zu erfinden.