Katharina Lukoschek ist zu Yasmina Rezas Drei Mal Leben im JT gegangen. Was sie gesehen hat: Eine Versuchsreihe zu zwischenmenschlich verzwickten Situationen mit keinem geringeren Anspruch als der Erschließung psychischer Abgründe. Die Versuchskaninchen schlugen sich ganz schön tapfer!
Von Katharina Lukoschek
»Ein Bild von Claude Bernard will ich anführen, das einen starken Eindruck auf mich gemacht hat: ‚Der Experimentator ist der Untersuchungsrichter der Natur.‘ Wir Romanschriftsteller, wir sind die Untersuchungsrichter der Menschen und ihrer Leidenschaften.« Als eben solcher Untersuchungsrichter, sozusagen als wissenschaftlicher Experimentator und weniger als schöpferisch inspirierter Dichter schreibt Émile Zola seinen Roman Thérèse Raquin, in dem er, wie er sich in seinem Vorwort zur zweiten Auflage vor Kritikern verteidigt, analytische Arbeit an einer Versuchsanordnung leistet. Diese Anordnung besteht aus zwei Menschen, »die unumschränkt von ihren Nerven und ihrem Blut beherrscht« und vom Leben auf immer aneinander gekettet werden. Natürlich kann das nicht lange gut gehen mit zwei cholerischen Naturen auf engstem Raum. Es kracht in Zolas Anordnung, es zischt und brodelt, ein Chemiebaukasten mit zu vielen Substanzen, die sich nicht vertragen, schließlich kocht das Gemisch über und das ganze Experiment endet in einem entsetzlichen Drama. Zwei Menschen, die sich gegenseitig seelisch und körperlich zerfleischen.
Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Seit September 2014 zeichnen Intendant Nico Dietrich und Tobias Sosinka als Künstlerischer Leiter für die Qualität des Angebots verantwortlich.
Drei Mal Leben ist auch ein Experiment. Vielleicht ist es nicht ganz so blutrünstig wie Zolas Roman, aber es ist mindestens so brutal ehrlich. Das Stück erschien im Jahr 2000 als das fünfte der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza und läuft derzeit im Jungen Theater, inszeniert von Christine Hofer. Es erzählt von einem Abend voller gegenseitiger Verletzungen, Hohn, Frust, Minderwertigkeitskomplexen und dem, was man gemeinhin als den Tropfen bezeichnet, der das Fass zum Überlaufen bringt. Henri, mehr oder weniger erfolgreicher Astrophysiker, gespielt von Karsten Zinser, und seine Frau Sonja (Linda Elsner), eine erfolgreiche Geschäftsfrau, verbringen einen mehr oder weniger ruhigen Abend. Bis auf den sechsjährigen Sohn, der eigentlich schon mit geputzten Zähnen im Bett liegt, aber trotzdem noch einen Keks will und so lange plärrt, bis man sich seiner Unerbittlichkeit beugt, läuft alles wie immer: Die Unterlagen für morgen müssen nochmal durchgesehen, die Wäsche gemacht, der kommende Tag geplant werden, alles Routine. Der eine oder andere Gedanke an früher einmal vorhandene Erotik schleicht sich kurz ein, nichts Ernstes, immer noch Routine. Und auf einmal klingelt es an der Tür. »Erwartest du jemanden?« »Nein, du?« »Nein.« »Oh Gott, die Finidoris!« »Aber das ist doch erst morgen!« »Nein, heute ist der Siebzehnte! Oh Gott!« Der erst für morgen angekündigte Besuch, Hubert und Ines Finidori (Jan Reinartz und Agnes Giese), stehen tatsächlich vor der Tür. Nun gut, schlimm wäre das nicht unbedingt, wenn Hubert Finidori nicht ein besserer Henri wäre: auch Astrophysiker, nur weiter fortgeschritten auf der Karriereleiter und mit entsprechendem Renommee – der perfekte Gönner, von dem sich Henri auf seiner wissenschaftlichen Durststrecke Unterstützung erhofft. Also heißt es: sich in Windeseile in Schale schmeißen, aus der letzten Ecke der Speisekammer Reste zusammenkratzen und so tun als sei das alles ganz natürlich, schließlich kann man den hohen Besuch ja nicht wegschicken.
Henri (Karsten Zinser) und Sonja (Linda Elsner) mit 2-Minuten Schnittchen und unbeeindrucktem Gast (Agnes Giese)
So sitzen sich nun vier Charaktere gegenüber, die vielleicht in ihrem Vorkommen als einzelne Elemente oder als Temperamente, wie Zola sagen würde, wenig auszurichten vermögen, in Kombination miteinander aber eine giftige und instabile Verbindung ergeben: Sonja, die ewig unzufriedene Ehefrau in den letzten Blütejahren, die es anwidert, wenn ihr Mann den »finidorischen Ton« anschlägt und seinem Kollegen in den Arsch kriecht, Henri, dessen Nerven unter Strom stehen (nicht nur, weil seine wissenschaftliche Laufbahn nicht kerzengerade nach oben verläuft, sondern sicherlich auch ein bisschen deswegen, weil das blöde Balg den ganzen Abend über einfach keine Ruhe gibt), Ines, die unsichere, hysterisch mit sich selbst wetteifernde Frau in den besten Jahren und schließlich Hubert, ein glatter, chauvinistischer Anzugtyp, den alles langweilt außer einem: auszutesten, wie weit er gehen kann. Alle vier sind sie geplagt von ihren Wesenszügen; sie sind so, wie sie sind, wollen anders, können nicht anders. Anspruch und Wirklichkeit begegnen sich in jeder einzelnen der Figuren und erzeugen im Verbund eine Spannung, die die Bühne knistern lässt.
Über all dem schwebt im wörtlichen Sinne das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, sinnbildlich verkörpert durch ein junges bebrilltes Fräulein im weißen Kittel, das den Schauplatz des Experiments und dessen Bedingungen sorgsam anpasst und als einzigen Kontakt nach außen den Wunsch nach mehr Alkohol erlaubt. Diesen gewährt sie natürlich uneingeschränkt, Stift und Notizzettel im Anschlag. Mit ihr beäugt das Publikum, wie der Abend langsam, aber stetig aus dem Ruder läuft und kommt sich dabei ein wenig vor, wie der Voyeur, der sich Gott sei Dank geschützt durch das Saaldunkel an den Spannungen und Beschimpfungen der vier Versuchskaninchen ergötzt – fast so wie beim Big Brother-Container.
Fehdehandschuh und RetourkutscheÜberspitzt höflich und mit zunehmend einfrierendem Lächeln lässt Sonja die vulgären Annäherungsversuchen Huberts über sich ergehen, während dieser ihrem Mann offenbart, dass er erst heute Morgen auf einen Artikel gestoßen sei, der dasselbe Thema behandelt wie Henri. Henri ist am Boden zerstört, Ines versucht tölpelhaft, die Situation abzuschwächen, Hubert sonnt sich in Henris Unglück und zu allem Überfluss müssen die Finidoris auch noch ständig das Geheul des Sohnes kommentieren. Auf der Bühne macht sich vieles breit: Entrüstung, Geschrei, Unterstellungen, alles vorgetragen mit viel Verve und Dynamik. Während Sonja und Ines Überraschungsgesten in Form reißender Schreie über ihre zufällig identischen Kleider austauschen, springt Henri auf und ab und versucht, seinen Schock über Huberts Nachricht zu verarbeiten. Alle geben sie ihr Bestes und doch: die latent vorhandene Aggression geht auf alle vier über, immer mehr giftige Vorwürfe werden zwischen den Paaren hervorgepresst, ein Schlagabtausch jagt den anderen. Vor allem Karsten Zinser und Linda Elsner harmonieren dabei wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Instrumente: Wirft der eine den Fehdehandschuh, pariert der andere bravourös und wirft seinerseits die Aufforderung zur Retourkutsche in den Ring. Das Publikum wird Zeuge einer genialen, weil geduldigen Steigerung vom häuslichen Alltagsstreit hin zum Eklat, die er den beiden nur zu gerne abkauft.
Fast, so möchte man meinen, ist dem Quartett auf der Bühne daran gelegen, keine einzige Minute des Schweigens aufkommen zu lassen, denn so könnte womöglich die ganze Tragweite ihrer Situation, ja ihres ganzen verunglückten Lebens zutage treten und sich in all ihrer Abscheulichkeit präsentieren. Und so steigern sich alle vier Beteiligten nicht nur in ein exzessives Gefecht aus Worten und Gesten hinein, sondern schrecken nicht einmal mehr vor Handgreiflichkeiten zurück.
Zola hätte das gefallenDie erste Version des Experiments, das erste Leben, ist vor der Pause abgeschlossen. Der zweite Versuch zeigt eine deutlich andere Konstellation aus Temperamenten und Charakteren, wobei die vier in ihren Grundeigenschaften gleich bleiben. Der hofknicksende Henri ist selbstbewusster, Sonja freut sich fast schon ein wenig auf Finidoris Gegrabsche und das Paar Hubert und Ines befinden sich sozusagen auf Augenhöhe: Was Hubert an Überheblichkeit im ersten Leben gezeigt hat, ist nun in Form von gesteigertem Selbstbewusstsein auf Henri übertragen worden. Das bebrillte Fräulein auf der Empore ist zufrieden, löscht das große Licht und lässt das zweite und schließlich auch das dritte Experiment beginnen. Wieder ertönt der Schrei über die identischen Kleider, wieder überbringt Hubert die Nachricht der unglückseligen Publikation, wieder läuft alles aus dem Ruder, nur diesmal noch exzessiver bis hin zur völligen Trunkenheit. Karsten Zinser präsentiert seinen Charakter zunehmend mit stolzer Brust, lauterem Organ zum Übertönen Huberts und der Zuversicht des langsam trunken werdenden Hausherrn, den das alles nichts mehr angeht. Alle vier beweisen dabei ein schauspielerisches Können, das sich in den kleinen, aber feinen Nuancen offenbart: Der Grundcharakter wird durch Feinmodulationen ergänzt, die für sich genommen wahrscheinlich gar nicht auffällig wären. Erst in der Kombination der vier Charaktere führen die neu arrangierten Naturen zu einem anderen Handlungsverlauf und das erfordert eine ausgesprochen gut eingespielte Besetzung, um nichts an Glaubwürdigkeit oder Tragikomik einzubüßen. Lediglich Agnes Giese merkt man hin und wieder an, dass ihr die Rolle nicht ganz auf den Leib geschneidert ist. Während sie noch im ersten Leben eine glaubhaft devote Ehefrau gibt, muten ihr das zweite und dritte Leben etwas zu viel Exzentrik zu und ihre Überdrehtheit neigt sich mehr in den Bereich des Hysterischen. Und dennoch hat dies einen sehr schönen Nebeneffekt: Ines wird in einer lebenslangen Rolle sichtbar, die Fassade bröckelt, ihr Lächeln friert ein und ein Schauder läuft dem einen oder anderen im Publikum den Rücken herunter. Wie hat es diese Frau nur so lange mit diesem Mann ausgehalten?
Schlachtfeld in Kammerspielgröße: Hubert (Jan Reinartz) maßregelt Henri und Sonja
Der Schluss des Stücks wird begleitet von einer Einspielung, die – vermutlich gesprochen vom selben Kind, das unentwegt nach Keksen brüllt – die ganze Versuchsanordnung in ihrem Sinn und Zweck decouvriert. Indem wir so sind, wie wir sind, aber so sein wollen, wie wir nicht sind, befinden wir uns in einem ständigen Spannungszustand, einem Paradox, das sich niemals auflösen lässt. Unsere Natur, die Temperamente machen uns zu dem, was wir sind, ob wir wollen oder nicht. Und was wir wollen, können wir kurzfristig vielleicht durchsetzen. Langfristig erreichen werden wir es nie. Und weil wir das wissen, wollen wir es zugleich nicht mehr: Henri will endlich wieder einen Karriereschub, doch als er von der zeitgleichen Publikation erfährt, merkt man ihm seine Gelöstheit, seine Erleichterung geradezu an. Sonjas während des Stücks gesteigerte Anziehung zu Hubert, verflüchtigt sich in dem Moment, in dem sie ihn durchschaut. Und Ines? Die kann sich nicht entscheiden, ob sie sich gegen Hubert zur Wehr setzen oder lieber den Mund halten soll.
Am Ende wird dem Zuschauer bewusst, in welchem Dilemma er steckt: Indem er darüber nachdenkt, ob das Experiment geglückt ist, wird ihm klar, dass er diese Frage gar nicht beantworten kann. Denn wenn alle vier Personen scheitern, ist ihr Lebensexperiment geglückt, aber wenn alle das erreichen, wonach sie streben, scheitert das Experiment. Immerhin weiß der Zuschauer eines sicher: Zola hätte das gefallen. Dem JT ist das Experiment Drei Mal Leben auf jeden Fall geglückt.