Der Terminus »Black Box« bezeichnet ein erbeutetes Kriegsgerät, das nicht geöffnet wurde, weil es Sprengstoff enthalten könnte. In Jennifer Egans Twitter-Roman Black Box wird der Körper einer jungen Agentin als so ein Gerät eingesetzt. Litlog-Autorin Alena Diedrich wirft einen Blick in die explosive Kurzroman-Kiste.
Von Alena Diedrich
Jennifer Egans Roman spielt in unbekannter Zukunft in Südfrankreich an der Mittelmeerküste. Weiße Strände, klarer Nachthimmel, blaues Wasser, Spiegelfläche für Mond und Gedanken – hierhin hat es eine junge Agentin für ihren ersten und einzigen Auftrag, den Hintermann einer kriminellen Terrorzelle auszuspionieren, verschlagen. 33 Jahre alt, Amerikanerin, uneheliche und ungewollte Tochter eines Filmstars, der nichts von ihrer Existenz weiß, kinderlos, verheiratet mit einem zugewanderten Afrikaner, der für die Nationale Sicherheit arbeitet und den sie während des Studiums in einem Seminar über Robotik kennengelernt hat. Sie geht das Risiko des Einsatzes nicht für Geld ein, sondern für Ruhm und Ansehen sowie aus ideellem Patriotismus, eben um »die amerikanische Lebensart zu bewahren« – aus Überzeugungen, die durchaus als Fanatismus zu bezeichnen sind:
Heroismus heute heißt, mit etwas zu verschmelzen, das größer ist als man selbst.
Heroismus heute heißt, Generationen der Egozentrik hinter sich zu lassen.
Heroismus heute heißt, der amerikanischen Gier nach Gesehenwerden und Anerkennung eine Absage zu erteilen.
Heroismus heute heißt, unter die Oberfläche deiner Erscheinung vorzudringen.
Du wirst überrascht sein, was darunter zum Vorschein kommt: ein riesiges Labyrinth voller ungeahnter Möglichkeiten.
Eine Art Schläferin ist diese Agentin, deren (Anti-)Terrorzellenausbildung mehr eine technische Aufrüstung ihres Körpers bedeutet als militärisches Training. Nicht ihre spezifischen eigenen oder erlernten Fähigkeiten machen sie zur Heldin, sondern die Bereitstellung entsprechender implantierter Hilfsmittel. Mit einem Schaltknopf hinter dem Knie, einer implantierten Kamera samt Blitzlicht im linken Auge und einem Übertragungskabel in der Schnittstelle zwischen dem rechten vierten und kleinen Zeh ist diese Cyborg-Agentin die Hauptfigur einer futuristischen American-Science-Fiction-Spionage-Geschichte.
Im Zuge einer ideell motivierten Selbst- und/oder Fremdoptimierung veräußert sie ihren Körper an Technik und Staat. Die technischen Hilfsmittel machen die Bewegungen der für uns namenlosen Agentin
Denk daran, dass dein Körper, solltest du sterben, einen wahren Schatz von Informationen preisgeben wird.
Und dass deine Feldinstruktionen, solltest du sterben, ein Dokument deiner Mission und Lehrmaterial für deine Nachfolgerinnen sein werden.
Denk daran, dass du allein dadurch triumphierst, dass du uns deinen Körper zurückbringen konntest.
Vor dem Hintergrund der universellen Brauchbarkeit für die Sache wird der Tod als freie Wahl und Heldentat inszeniert, die den Beschädigungen an der eigenen Psyche, die durch den Auftrag entstehen, vorzuziehen ist:
Mach dir klar, dass du durch die Rückkehr in deinen Körper eine schmerzliche Rückkehr in ein verändertes Leben auf dich nimmst.
Einige Zivilagenten haben sich gegen eine Rückkehr entschieden.
Sie haben ihren Körper zurückgelassen und sind nun als funkelnde Lichtpunkte am Firmament zu sehen.
Vielleicht stellst du dir die funkelnden Sterne als die Seelen heroischer ehemaliger Agenten-Schönheiten vor.
Vielleicht stellst du dir den Himmel als riesigen, von ihren Lichtpunkten übersäten Bildschirm vor.
Die Psyche der Agentin wurde durch das Erlernen einer ,Leib-Seele-Technik‘, die vorübergehend das Bewusstsein von ihrem Körper abspaltet, auf die bevorstehenden Aufgaben vorbereitet. Diese »Dissoziationstechnik« wird so verinnerlicht, dass der Körper in Gefahrensituationen automatisch zu einem fremden und fernen Gegenüber wird:
Du hast die Dissoziationstechnik angewendet ohne es zu wollen.
Dagegen ist nichts einzuwenden.
Frei von Schmerzen kannst du jetzt durch den Nachthimmel schweben.
Psyche und Emotionen bilden eine Leerstelle, die nur bei der Datenübertragung – unkontrolliert und unvorhersehbar – aus der Black Box herausbrechen:
Du wirst spüren, wie eine Flut der Daten deinen Körper überschwemmt.
Diese Datenflut kann Gefühle, Erinnerungen, Hitze, Kälte, Schmerz oder auch Freude auslösen.
Obwohl es sich um fremde Daten handelt, werden die freigesetzten Erinnerungen deine eigenen sein.
Du selbst an einem Sonntag, wie du im Bett eine Orange für deinen Mann schälst, während die Sonne Pfützen aus Licht auf die Laken zeichnet.
[…]
Die Wucht der Datenflut kann zu Bewusstlosigkeit oder vorübergehendem Gedächtnisverlust führen.
Die übermächtige Technik bestimmt über das Subjekt und wird so zum eigentlichen Aktanten. Dennoch bringt die Black Box-»Psyche« lesbare Zeichen hervor: Die Agentin sendet den Lesern ihre Gedanken in Twitter-Häppchen – überschaubaren Gedankenbrocken, die aufgrund ihrer Kürze und Dichte Raum für Deutungen und Interpretationen lassen. So wird auch der Leser zu einer Art kognitiven Black Box: Zum kurzen Input-Tweet entstehen Bilder im Kopf, in denen sich eine Geschichte entfaltet. Aufzählungen und Reihungen allgemeiner Sätze verraten das Geschehen, ohne dass davon im eigentlichen Sinne berichtet oder erzählt wird. Es gibt kein Ich, das erzählt, wohl aber eines, das sendet und Erlebtes sofort in Regeln überführt – und hier und da auch über diese stolpert:
Ein universelles architektonisches Prinzip lässt uns problemlos erraten, welche Tür ins Schlafzimmer des Hausherrn führt.
Die geschlossenen Türen von Wäscheschränken können der zum Schlafzimmer des Hausherrn ähneln.
Die von Badezimmern ebenfalls.
Jennifer Egan hat ihren Leib-Seele-Technik-Roman zuerst handschriftlich in einem japanischen Notizheft entworfen, bevor er in 140-Zeichen-Absätzen über Twitter gesendet wurde. Wie ein schwer enschlüsselbares Haiku, dessen Sinn in der Schwebe bleibt, schildern die einzelnen Tweets erlebte Momente, ohne deren Bedeutung dabei in jedem Fall festzulegen. Im neutralen und (a-)personalen Erzählen (in der Du-Anrede) der Tweet-Absätze nimmt der Text eine beteiligte Perspektive ein, die neben der Optimierung des Körpers auch eine quantitative Optimierung von Literatur und deren Technisierung veranschaulicht – allerdings ohne durch die Reduzierung der Zeichen eine Reduzierung des Sinns herbeizuführen. Im virtuellen Raum zwischen Autor, Leser und Text – in der Black Box »Literatur« – beginnt ein produktiver Prozess.
Zum Twitter-Account von Jennifer Egan
Zum englischspachigen Text im New Yorker Magazine