Natürlich ist das Thema Flucht auch auf der LBM16 angekommen. Die von (post)migrantischen wie deutschen Autor_innen verfasste Textsammlung Wie wir leben wollen lotet die Bedeutung von Identität und Heimat neu aus. Die Bedingungen für das Schreiben, so Autor Matthias Nawrat, haben sich grundlegend geändert.
Von Marisa Rohrbeck und Annie Rutherford
Was heißt für euch fremde Identität und Heimat? Wie wichtig sind die kulturellen Wurzeln der Eltern? Wann schwingt Fremdenfeindlichkeit im eigenen Leben mit? Mit diesen Fragen wurden die Autor_innen des Bandes Wie wir leben wollen, das Ende März bei Suhrkamp erscheint, konfrontiert. Herausgegeben von Matthias Jügler stellt der Band fiktionale und essayistische Texte zeitgenössischer deutschsprachiger Autoren unter dem Thema »Texte für Solidarität und Freiheit« zusammen. Ohne Honorar haben die Autor_innen ihre Texte beigesteuert, der Gewinn geht vollständig an humanitäre Hilfe für Geflüchtete. Carsten Tesch kam auf der Leipziger Buchmesse mit Matthias Jügler und den Autor_innen Lucy Fricke, Matthias Nawrat im ARD-Forum ins Gespräch.
Matthias Nawrat hakt nach: »Aber ist es die Pflicht des Schriftstellers, sich zu politischen Themen zu äußern? Ich habe mich gefragt, warum man sich als Schriftsteller zu Wort melden sollte«. Jeder habe sich schon in Zeitschriften oder online innerhalb der Flüchtlingsdebatte positioniert. Was bringt es, da eine weitere Stimme hinzuzufügen? »Ich fühlte mich damit überfordert«, gesteht er. Tatsächlich zögerte er auch, bei diesem Buchprojekt mitzumachen, letztlich habe er aber zugestimmt; vor allem aus der Überlegung und dem Versuch heraus, Normalität in der Situation zu zeigen. »Ich wollte Beruhigung in die Debatte bringen. Wir brauchen ein konstruktives Gespräch, nicht diesen emotionalen Aufschrei, den es im Moment gibt, von linken sowie rechten«.
Die Texte im Band reichen von Erzählungen bis zum Manifest und Jügler erklärt, dass die Texte von Autor_innen, die selbst nicht in Deutschland geboren sind, eine besonders interessante Perspektive böten. Über das Entstehen des Buchs ergänzt er: »Ich war sicher, dass die Menschen, die ich angefragt hatte, auf meiner Seite waren«, lacht er, »und dass sie natürlich so dachten, wie ich. Und das habe ich gar nicht hinterfragt. Das Fremde ist eben nicht etwas, was es abzuwehren gilt, um das Eigene zu schützen«.
Doch was passiert, wenn die Debatte Einzug ins literarische Schaffen hält und alles überbordet? »Mich hat es wirklich hart getroffen, die plötzliche Veränderung der politischen Situation, nicht nur persönlich«, so Matthias Nawrat. »Ich konnte erst nicht mehr schreiben, wusste nicht wie«. Damit war er nicht allein. Viele berichteten vom gelähmten Schreiben, der Not, Worte zu finden. Sein derzeitiges Schaffen? Er sei im Umbruch gibt Nawrat zu. »Ich kann nicht mehr schreiben wie vorher«.
Die Unmöglichkeit des Schreibens ist ein für die deutsche Literaturgeschichte nicht unbekanntes Phänomen. Auch das kollektive Trauma des Zweiten Weltkrieges übermannte das kreative Schaffen vieler Autor_innen. Es führte aber auch zu einem wachgerüttelten, neuen Schreiben, das das Denken und Dichten der Deutschen vitalisierte. Das Fazit des Moderators, die Flüchtlingsdebatte wirke sich bedrohlich auf die Produktion junger deutscher Literatur aus, bleibt durchaus diskutabel. Dass sie diese verändert steht dabei außer Frage.