Provozierende Nischenthemen und intermediale Probierstunden; solide Klassiker und reichlich Raum für gesellschaftliche Bildung. Die Litlog-Redaktion wohnte dem Pressekaffee im Literarischen Zentrum bei, wo das druckfrische Herbstprogramm vorgestellt wurde.
Von Johanna Karch
Schleichende Erneuerungen versprach die Leiterin des Literarischen Zentrums anlässlich der Vorstellung des frisch gedruckten Herbstprogramms. Gemeint war zum einen die Hauskosmetik des Zentrums, das nach 12 Jahren Bestehen und dem Leitungswechsel von Hauke Hückstädt zu Anja Johannsen leichte Typveränderungen gut vertragen kann. Geplant sind ein neuer Anstrich und – endlich – die Verstärkung der Fenster, die zwar das urige Ambiente ausmachten, aber gerade zu sportlichen Großveranstaltungen wie Fußball- EM und -WM die klingende Euphorie der Public-Viewer nicht von den Veranstaltungen des Hauses abschirmen konnten. Wie die Minimalverschiebung des umkreisten Z aus dem Logo vor gut einem Jahr, so driftet nun auch das Programm, leise aber bestimmt, aus dem bekannten Rahmen. Demgemäß verkündet Marit Borcherding, Projektleiterin der Reihe Literatur macht Schule den »Blick über das Alltägliche hinaus« zum Leitgedanken des Herbstprogramms.
25 Veranstaltungen versprechen Experimente und spannenden Ärger, vor allem wenn Ralf Brönt mit seinem Manifest des »entehrten Geschlechts« die fehl gelaufene Emanzipation des Mannes anhand feministischer Ideen nachzeichnet. Ebenso heiß zu diskutieren sein wird die Frage, ob Péter Farkas Acht Minuten (Luchterhand, 2011) mit der mutigen Erzählstrategie aus der Perspektive eines Demenzkranken überzeugen kann. Geschockt werden soll im Jungen Theater, wenn der Übersetzer Andreas Nohl mit Mythenforscher Hans Meurer und NDR-Redakteurin Margarete von Schwarzkopf die Neuübersetzung Draculas (Steidl, 2012) beschwört. Gleichermaßen grenzüberschreitend darf man den Versuch gejazzter Bücherkunst von Karl Lippegaus einstufen, der zusammen mit Kristin Dittrichs erzählenden Fotografien von William Eggleston intermediale Kapriolen schlägt. Weiters ist der hochproduktive Jan Wagner zu nennen, der unter der Moderation Heinrich Deterings die Reihe »Der Geist weht« mit einer erweiterten Autorinszenierung in seinem neuen Lyrikband bereichern will.
So experimentell sich das Programm geriert, so sehr braucht es seine öffentlichkeitswirksamen Klassiker: Josef Bierbichlers Mittelreich (Suhrkamp) verpasste dem deutschsprachigen Generationenroman 2011 ein bayrisches Topping. Umso fescher, dass er es persönlich nach Niedersachsen bringt und mundartgerecht vorträgt. Das Wort »lesen« würde kaum hinreichen für das, was der Besucher an wuchtiger, bierbichler Performanz zu erwarten hat. Aus noch südlicheren Gefilden folgte die wohl würdigste Nachfolgerin Elfriede Jelineks dem Ruf des Zentrums nach Göttingen: Die Österreicherin Marlene Streeruwitz stößt sich im September mit Die Schmerzmacherin (S. Fischer, 2011) am ausufernden Sicherheitsfetischismus, der anlässlich des Literaturfests Niedersachsen unter dem Schlagwort »Freiheit« hinterfragt werden darf. So hat auch Benjamin Stein mit seinem Wachmacher Replay (C.H. Beck, 2012) bedrohliche Überwachungsrealitäten im Visier. Im Strudel noch viel schwärzerer Mächte finden sich die Figuren des Geheimtipps aus Schottland, John Burnside, wieder, der mit In hellen Sommernächten (Knaus 2012) seinen prosaistischen Feinsinn zum Besten gibt.
Der gesellschaftliche Auftrag, so merkt man, ist trotz Experimentierfreude und bewährter Klassik ein nicht minder wichtiger Pol des Programmkonzepts: Der Journalist und Autor Wolfgang Korn erörtert am 18. September mit SchülerInnen das Verständnis von Normalität und will erklären, warum anders normal ist und normal meist nur das Vertraute. Didaktikkoryphäe Kaspar H. Spinner zielt mit seinem Vortrag zu Empathie und literarischem Verstehen auf die Methodenprobierfreudigkeit von DeutschlehrerInnen. Eine Veranstaltung mit Fortbildungscharakter, auf Wunsch werden Teilnahmescheine ausgestellt.
Inklusions-Konzepte in gelebter Praxis präsentieren die Autoren Angela Fitzen und Johanna von Schönfeld, die zusammen mit der Herausgeberin Katja de Bragança den hoch gelobten »Ohrenkuss« vorstellen – ein general-interest Magazin, dessen Artikel von jungen und älteren Autoren mit Down-Syndrom geschrieben werden.
So paradox es anmutet – eine gute Nachricht erreichte das Zentrum aus Syrien: Man freut sich sehr, dass es gelungen ist, die Ausreisebewilligung für die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Yassin Hassan zu bekommen. Dies war bis nach Druck des Programmhefts noch unklar und bereichert die Saison mit politischer Aktualität. Ein zweisprachig gestalteter Abend mit der Literaturvermittlerin und ehemaligen Zentrumsvolontärin Insa Wilke und dem Arabisten Stephan Milich soll einfühlen in den Versuch der literarischen Rebellion, die zensurfrei in ihrem Heimatland unmöglich ist. Unangetastet erscheinen Ebenholz (2004) und Wächter der Lüfte (2012) im Kölner Alawi Verlag.
Ob die programmatische Verschiebung zu genüge durchschlägt oder ob sie an der Vielfalt thematischer Ausrichtungen ein wenig an Leuchtkraft verliert, mögen die Veranstaltungen zeigen. Fest steht, dass nicht nur die Umgestaltung des Interieurs einen Herbstbesuch im Literarischen Zentrum obligatorisch macht.